31) Türsteher

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Sie fliegt aber nicht los, sondern wird immer kleiner. Ihr Zischen ist schon längst nicht mehr zu hören.

Trotzdem rudern wir noch immer, als ginge es um unser Leben. Vielleicht tut es das ja auch.

Zu meiner unendlichen Erleichterung erreichen wir das andere Ufer ohne einen weiteren Zwischenfall. Mit einem Ruck setzt das Floß schließlich auf dem flachen Grund auf. Da meine Kleidung sowieso noch nass von meinem Sturz ist, überbrücke ich die wenigen Schritte bis zum Ufer zu Fuß, während ich es Aljan überlasse, das Floß ins Trockene zu ziehen.

Vor uns liegt eine Felswand, die sich senkrecht in die Höhe zieht. Ein schmales, dunkles Loch führt in das Bergmassiv hinein. Nicht wirklich einladend, eher wie ein Schlund, der einen nie wieder ausspuckt, sollte man es wagen, einen Fuß hineinzusetzen.

"Der Eingang zum Totenreich", erklärt Aljan.

Aber direkt vor der Höhle zieht sich ein langer, klaffender Riss weit zu beiden Seiten, ehe die Enden wieder schmal zusammenlaufen. Im mittleren Teil, direkt vor dem Höhleneingang, ist der Spalt zu breit, um darüber springen zu können. Ich werfe einen Blick hinein. Tiefste Schwärze starrt mir entgegen. Undurchdringlich. Ein Amboss fällt neun Tage. Oder noch länger. Viellicht für alle Ewigkeit. Ich würde es glauben und nicht herausfinden wollen.

Aus der endlosen Tiefe weht mir ein kalter Lufthauch entgegen und verursacht eine Gänsehaut auf meiner feuchten Kleidung.

"Und wie kommen wir da hinüber?", frage ich und unterdrücke ein hysterisches Kichern. Als ob ich unter normalen Umstände ins Totenreich einkehren wollen würde. Es ist so bizarr.

Zumindest tanzt die Emposa am anderen Ufer noch fröhlich auf und ab und kommt gar nicht auf die Idee, überzusetzen. Aber hier bleiben ist auch keine Option. Wer weiß, welche schreckliche Kreatur sonst ihren Weg zu uns findet. Auf noch eine Begegnung kann ich gerne verzichten. Im Augenblick scheint das finstere Loch im Berg tatsächlich die einzige Richtung zu sein.

"Wir gehen außen herum", erklärt Aljan und entscheidet sich mit einem Nicken für den linken Weg. Der Spalt wird enger, je weiter wir uns von dem Höhleneingang entfernen. Aljan beäugt den Riss immer wieder mit einem prüfenden Blick. Ich blende so wohl den Abgrund zu meiner Seite, als auch die wenig einladende Umgebung aus so gut es geht und fixiere Aljan. Er liefert einen tröstlichen Anblick in all dem Elend. Mittlerweile meine ich, seine Gefühlsregungen schon recht gut aus seinem Mienenspiel lesen zu können. Irgendetwas beschäftigt ihn. "Worüber denkst du nach?" Ich kann nicht verhindern, dass meine Gedanken zu Worte werden.

Seine Stirn legt sich in Falten. "Die Empusa. Man sagt, sie werden geschickt. Sie sind bekannt dafür, Männer in die Irre zu führen. Ich frage mich, was ihr Erscheinen bedeuten soll." Er schaut hinüber zur anderen Seite. "Es scheint, als wollte sie uns hier haben. Mir gefällt das nicht. Sie hätte mich als Höllenprinz eigentlich gar nicht weiter beachten dürfen. Sie hätte eigentlich gar nicht hier sein sollen."

Seine Worte tragen nicht gerade zu meiner Erleichterung bei und werfen viel zu viele neue Fragen auf. "Sind wir dort in Sicherheit?" ist die erste davon, die mir einfällt und im Moment am relevantesten erscheint.

"Ich hoffe es." Der Spalt ist inzwischen kaum mehr einen Meter dick. Aljan hält an, macht drei Schritte zurück, nimmt kurz Anlauf und springt auf die andere Seite. Er hält mir seinen Arm entgegen. Eigentlich eine Distanz, die man locker überwinden kann, wenn es nicht gerade unabwägbar weit hinunter gehen würde. Meine Höhenangst wird getriggert. Andererseits läuft der Riss noch etliche Meter so weiter, bevor er endlich noch schmaler ausläuft. Ich nehme meinen Mut zusammen und vertraue Aljan, mich zu fangen. Ich gehe wie er ein paar Schritte zurück und lege mir einen Punkt fest, an dem ich abspringen will. Sollte doch ein Kinderspiel sein!

Meinen Punkt fest im Blick, jogge ich los. Und springe ab und befinde mich für einen Sekundenbruchteil über dem Abgrund. Ein kalter Hauch umklammert meine Füße, bevor ich mit einem Bein auf dem Boden aufkomme und Aljans Griff um meinen Oberarm spüre. Noch ehe er mich zur Landung zieht, spüre ich, dass etwas nicht stimmt.

"Autsch", entfährt es mir, als ein stechender Schmerz meinen Fuß hinauffährt. Beim Aufkommen knickt mein Knöchel unglücklich unter mir weg und ich falle regelrecht in Aljans Arme, ehe ich prüfend nach meinem Fußgelenkt taste. "Oh", jammere ich.

Aljan wirft einen besorgten Blick auf meinen Fuß. "Geht es?", erkundigt er sich. Ich versuche probehalber meine Zehen kreisen zu lassen und zische vor Schmerzen laut auf. "Scheint nicht so."

Aljan legt meinen Arm, den er immer noch hält, über seine Schulter und zieht mich zu sich. "Ich stütze dich, bis es besser wird. Aber wir müssen weiter."

Ich lehne mich auf ihn und humple an seiner Seite zurück zum Hölleneingang, darauf bedacht, den Fuß so wenig wie möglich zu belasten.

"Es sollte schnell besser werden. Erinner dich, Dalerana, dass du gar nicht wirklich körperlich hier bist. Aber leider bist du noch sehr stark auf deine gewohnte Gestalt fixiert."

Was auch immer damit gemeint ist. Gerade wird mir alles ein wenig zu viel. "Red weiter", stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Eine Frage formulieren, erscheint mir viel zu anstrengend. Der Rückweg zieht sich für meinen Geschmack viel zu sehr in die Länge.

"Hier sollte eigentlich Kerberos auf uns warten", erfüllt Aljan meine Bitte, "und dafür sorgen, dass kein Lebender in die Unterwelt und kein Toter heraus gelangen kann."

"Also ist er quasi nichts weiter als ein haariger Türsteher." Ich befürchte nur, dass im Inneren keine besonders tolle Party im Gang sein wird. Aber wer weiß, vielleicht werde ich ja überrascht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

"Wenn du so willst, aber solltest du ihn jemals treffen, lass ihn das nicht hören", schmunzelt Aljan. "Die eigentlichen Richter sind Minos, Rhadamanthys und Aiakos. Du erinnerst dich an das Reliefgemälde der drei bärtigen Herren gleich neben der Tür?" Ich nicke.

"Es zeigt besagte drei Herren. Wobei Aiakos als der eigentliche Hüter der Tür fungiert." Sie sahen auf den ersten Blick aus wie drei gewöhnliche betagte Herren. Und wenn der gestrenge Ausdruck hinter den vollbärtigen Gesichtern nicht wäre, würden sie beinahe freundlich wirken. Jedenfalls freundlicher als die Totenrichter im alten Ägypten. Das heißt, wenn der Schein nicht trügt.

Inzwischen haben wir den Eingang zur Unterwelt erreicht. Kein Höllenhund und keine Richter stehen davor. Im Gegenteil, Aljan führt mich einfach ins Innere und niemand hält ihn davon ab. Kein Lebender darf hinein, aber hier bin ich. Wenn ich keine Lebende bin, was bin ich dann?

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now