8) Namenlose Schatten

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Die Bibliothek ist mächtig. Immer wieder orientiere ich mich an der alles überspannenden Kuppel, von der Farbzeichnungen verschiedenster Fratzenköpfe und Dämonenmasken zu mir herab blicken. In dem blutroten Schein der aufgehängten Leuchter wirken sie fast lebendig, bedrohlich. Ich wage immer nur einen kurzen Blick, nur um mich in den weitläufigen Gängen aus Büchern, Drucken und Folianten nicht zu verirren. Die Mitte des Raums liegt irgendwo zu meiner Linken. Auf den breiten, ledernen Buchrücken prangen verschnörkelte Schriftzeichen, die ich kaum entziffern kann. Selbst wenn ich es könnte, wäre ich der lateinischen Sprache, in welcher sie verfasst wurden, nicht mächtig. Dieses Wissen wird mir auf ewig verwehrt bleiben. Ich kann nicht glauben, dass Tenebris dies alles gelesen haben soll. Wie viel Zeit muss man dafür aufwenden? Ich versuche eine grobe Schätzung im Kopf, aber scheitere. Jahrhunderte werden nicht reichen. Der Geruch nach altem Leder und vergilbtem Papier umgibt mich. Es riecht nach Staub und Verfall. Ich biege nach rechts in einen weiteren Gang an und finde mich moderner wirkenden Buchrücken gegenüber. Wenigstens kann ich diese Schrift problemlos lesen. Die 'Chroniken der Unterwelt' reihen sich an 'Die Herren der Unterwelt'. Daneben steht Kings 'Dunkler Turm', Prachetts 'Eric' und eine zerfledderte Ausgabe von 'Es'. Ein modern wirkender Roman namens 'Die Günstlinge der Unterwelt' fällt mir ins Auge, aber meine Finger greifen nach einer unscheinbaren und vergleichsweise schmalen Ausgabe moderner Lyrik. Ich blättere durch die Seiten. Gedichte von Edgar Allan Poe, Heinrich Heine, Robert Browning springen mich an, kommen mir vage bekannt vor. Ich fliege flüchtig über die Verse. Auf der Einbandseite halte ich inne. Jemand hat mit filigranen Lettern etwas notiert. Ich murmele leise die geschriebenen Worte vor mich hin.


Folge dem Weg des dunklen Pfades

tief hinunter in den Hades.

Zwischen rauschenden Flüssen,

wird man dich begrüßen.


Fährmann Charon setzt dich über,

mit dem Floß geht es hinüber.

Du stellst dich dem Totenrichter,

und es löschen sich die Lichter.

Das Metrum des Gedichts gefällt mir. Es ist einfach und leicht zugänglich, erscheint kaum bedrohlich. Ich lasse die Worte auf mich wirken. Pötzlich ertönt eine tiefe männliche Stimme und führt die Strophe fort.

Aus dem Schattenreich der Toten

ist die Rückkehr streng verboten.

Die, die Leben inne hatten,

werden namenlose Schatten.


Lange hallen die Worte nach und keiner von uns beiden spricht etwas.

"Hier steckst du also", sagt Aljan schließlich.

"Ich habe mich ein wenig umgesehen", erkläre ich.

"Und etwas gefunden, das deinen Gefallen erregt?", erkundigt er sich.

Ich klappe das dünne Bändchen zu. "Mit Lyrik kann ich eigentlich weniger anfangen, aber das hier ist ganz nett." Ich stelle das Buch zurück auf seinen Platz zwischen weitaus dickeren Wälzern.

"Wenn du willst, kannst du es gerne mit auf dein Zimmer nehmen. Ich fürchte zwar, alles was du hier findest, ist samt und sonders düstere Lektüre, aber ich kann es dir zumindest anbieten." Ich erkenne den Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht. "Dein Zimmer genügt hoffentlich deinen Ansprüchen und du fandest alles zu deiner Zufriedenheit?"

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now