12) Vorstellungen von der Hölle

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"Wann hat das alles angefangen?", frage ich irgendwann in die Stille zwischen uns, als ich das Schweigen nicht mehr länger aushalte.

"Vor ein paar Wochen. Wie aus dem Nichts. Erst waren es nur wenige, schmale Risse. Wie Beschädigungen in altem Lack. Nicht besorgniserregend, nur störend. Vater meinte, es seien Alterserscheinungen und wir müssten die Konzepte lediglich neu gestalten."

"Aber dem war nicht so?", erfasse ich das Naheliegende, als er nicht weiterspricht.

"Zu seinem grenzenlosen Ärger ließen sie sich nicht entfernen. Im Gegenteil, jeder Versuch einen Spalt zu kitten, führte zu neuen, immer schneller wachsenden Rissen. Seine Laune war tagelang im Keller. Ich habe noch nie ein derart leuchtendes Rot auf den Gängen gesehen. Auch das tiefdunkle Schwarz war beängstigend."

"Wo führen sie hin? Habt ihr nie versucht, herauszufinden, was da unten ist?" Mein Blick sucht den nächsten Spalt. Die Blumenwiese, auf der wir sitzen, ist verschont geblieben, erst weit dahinter, im Lehmboden klafft ein etwa drei Meter langer und ein Meter breiter Spalt auseinander. Ein Mensch könnte locker über die gezackten, aufragenden Enden springen oder hinunterklettern.

"Einer meiner Brüder hat versucht, ihnen auf den Grund zu gehen. Aber da ist nichts. Nada. Niente. Er hat mehrere Anläufe unternommen. Sie enden nirgendwo. Leere, Unendlichkeit."

"Als hätte die Hölle auf einmal begonnen, sich selbst zu erschaffen", sinniere ich. "Und von euch steckt da wirklich keiner dahinter? Ein Scherz einer deiner Brüder?" Ich äußere meinen spontanen Gedanken. So wie Aljan erzählt hat, sind es allesamt keine besonders bewunderswerten Gestalten.

"Nein! Mit Sicherheit nicht. Das hier ist meine Kreation, da kann kein anderer walten. Auch in den Reichen meines Vaters ist meine Macht sehr eingeschränkt. Und die Zerstörung betrifft uns alle."

"War nur so ein Gedanke", beschwichtige ich. "Ich versuche, das alles zu verstehen. Interessant, in der Hölle gibt es also Gesetze. Wer hätte das gedacht."

Aljans Mundwinkel verziehen sich bei meiner Feststellung ein wenig nach oben. "Oh, ich glaube, hier gibt es so einiges, was dich überraschen wird."

"Du meinst, noch mehr als die verblüffende Tatsache, dass ich hier sitze, mit dir rede und mich mitten im Jenseits befinde?" Irgendwie kommt es mir nicht mehr wie ein Traum vor und wenn es doch einer ist, dann hoffe ich, dass ich mich nach dem Aufwachen an jedes noch so kleine Detail erinnern kann.

"Jenseits ist nicht gleich Jenseits." Er lacht. "Jedenfalls bist du nicht wirklich tot und du bist die uns verheißene Retterin."

"Ich hoffe es."

"Ich weiß es."

"Dass ich nicht tot bin oder dass ich eure Retterin bin?"

Er lacht wieder. Der schallende Laut passt in diese idyllische Kulisse. "Beides."

"Du bist sehr zuversichtlich", bemerke ich. "Und sehr gut gelaunt."

Er schaut mich an. "Erst seitdem du da bist. Dass du nicht tot bist, dafür habe ich gesorgt. Der Drink. Du erinnerst dich?" Ich nicke und stöhne gespielt auf. "Erinner mich bitte nicht daran."

Meine theatralische Mimik scheint ihn weiter zu erheitern. Fältchen meiseln sich in die Haut neben seiner Augenpartie.

"Du hättest das Gesicht meines Vaters sehen sollen, als er deinen Namen hinter dem siebten Siegel gelesen hat. Ausgerechnet der Name eines Mädchens."

"Was hat er gegen Mädchen?", frage ich.

Aljan zuckt die Schultern. "Wenn ich das wüsste. Vermutlich schlechte Erfahrungen in seiner Jugend."

Ich kann mir kein Bild eines jungen Tenebris vorstellen. Ich will auch gar nicht an den Fürsten der Finsternis denken.

"Ein Glück für ihn, dass er nur Söhne hat. Und eure Mutter?" Ich beobachte Aljan vorsichtig. Er verzieht keine Miene, aber sowohl die Lachfältchen, als auch die Kräusel um seine Lippen sind verschwunden, als er antwortet. "Wir haben keine." Seine Stimme klingt beinahe traurig. "Nie gehabt."

Er bemerkt meinen verständnislosen Blick. "Er hat uns nicht gezeugt, sondern erschaffen. Wir sind seine Söhne und seine Kreationen, wenn du so willst."

"Oh!", entfährt es mir.

"Er betrachtet uns als seine Werkzeuge und als seine Ebenbilder. Was glaubst du, wie wütend er war, als mein Bruder den Ursprung der Risse nicht erkunden konnte? Erit war an diesem Abend der erste von uns, der ging. Die nächsten folgten bald darauf."

"Warum bist du geblieben?"

Er fährt sich mit den Händen über die Augen. "Ich weiß es nicht. Es ist meine Heimat. Mir gefällt es hier. Ich bin nicht gerne auf der Erde."

"Ich hatte den Eindruck, dass du dich auf dieser Party ganz wohlzufühlen schienst."

Schließlich verschränkt er die Hände vor seinem Mund und schaut mich eine Weile an. Der Blick aus seinen blauen Augen ist unergründlich. Er erinnert mich in diesem Moment an ein Kunstwerk. An eine nach perfektem Vorbild erschaffene Skulptur. Der Gedanke lässt mich erschaudern.

"Das lag nicht an der Party", stellt er schließlich fest. "Das lag an deiner Gesellschaft. Du hast erzählt wie ein Wasserfall. Ich musste nur ein paar Worte sagen, und schon hatte ich dein Versprechen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so einfach werden würde. Nicht einmal mein Vater hat daran geglaubt, dass es mir gelingen würde. Ausgerechnet mir, ein Mädchen mit hinunterzulocken."

"Oh Gott", stöhne ich. "Ich habe es dir so leicht gemacht. Du musstest mich nicht einmal groß locken. Das ist mir wirklich peinlich. Ich habe mich einfach so entführen lassen. Ich bin eure Gefangene, stimmt's? Ihr werdet mich nicht mehr gehen lassen, bevor ich nicht erfüllt habe, was ihr von mir erwartet?"

Er nickt zur Bestätigung meiner Worte. "Ich fürchte schon. Aber du bist keine Gefangene. Du bist ein Gast."

"Wortglaubereien", erwidere ich. "Du bist mein Gastgeber und Aufpasser in einem. Aber ich habe wirklich keine Ahnung, was ich tun kann, um euch zu helfen. Wenn selbst ihr mit euren Fähigkeiten nicht weiterkommt. Was kann ich da ausrichten?"

"Ich weiß es auch nicht. Aber wir werden es schon herausfinden", sagt er hoffnungsvoll. "Auch wenn wir nicht das beste Verhältnis haben, mein Vater und ich, hänge ich wirklich an diesem Ort. Die Vorstellung dauerhaft auf der Erde leben zu müssen, das wäre meine Hölle." Er lacht gequält. Dann zuckt er plötzlich zusammen. "Mein Vater", erklärt er. "Er ruft nach mir."



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Na, wie hat euch dieses kurze Kapitelchen gefallen?
Was haltet ihr inzwischen von Aljan und der ganzen Geschichte?

Und was könnte sein Vater jetzt wollen?

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now