21) Über Umwege

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"Bitte, Dalerana. Lass es uns wenigstens versuchen." Die meerwasserblauen Augen bohren sich in meine.

Ich stemme die Hände in die Hüfte. "Nein! Nur über meine Leiche."

"Aber du hast doch gesehen, dass alles andere nichts bringt."

Nur mit enormer Willenanstrengung kann ich verhindern, dass ich auf den Boden stampfe. "Und was soll es bringen, wenn ich da unten bin?"

"Ich weiß es nicht genau. Aber ich finde, es ist einen Versuch wert. Irgendwie müssen wir doch anfangen?"

"Aber warum ausgerechnet da hinein? Und warum ausgerechnet ich?" Mit skeptischem Blick beäuge ich den steil abfallenden Rand des Abgrunds.

Ich erwarte gar keine Antworten auf meine Frage, weil ich selbst weiß, dass er sie nicht hat. "Und außerdem habe ich Höhenangst." Und enorme Angst, ins Bodenlose zu fallen.

"Und was stellst du dir überhaupt vor, soll ich da unten anfangen?"

Aljan betrachtet mich noch immer und wirkt trotz meines Ausbruchs völlig gefasst. "Ich weiß es nicht, aber es erscheint mir als sinnvoller Anfang. Du könntest versuchen, eine Gesteinsprobe zu sammeln oder dir fällt irgendetwas auf? Vielleicht hilft es einfach, wenn du dort unten bist, die Wände berührst?"

"Klingt nicht gerade sehr überzeugend und nach einem ausgereiften Plan." Ich bücke mich und greife mir die Ausrüstung. Der Gurt fühlt sich fest an. Sehr profimäßig, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es dort tief hinunter geht, dunkel und unheimlich ist.

"Ich gestehe ja, dass es das auch nicht ist. Eher ein verzweifelter Versuch, wenigstens irgendetwas zu unternehmen."

"Aber das haben wir doch schon! Ich habe es mit Worten versucht, mit Bittesagen, sogar mit meiner Spucke. Ich kann ja mal hineinfassen und es mit meinen Händen versuchen. Macht doch keinen Unterschied, ob ich dabei hier oben stehe, oder irgendwo da unten baumele." Allein bei dem Gedanken schüttelt es mich schon.

"Ich kann verstehen, dass du Angst hast." Aljan klingt so verflucht verständnisvoll, dass ich schnaube.

"Würdest du dich etwa dort hinabseilen lassen?", fordere ich ihn heraus.

"Wenn es Erit und Anden nicht versucht hätten, hätte ich es getan." Jetzt klingt er so verdammt selbstbewusst.

Ich zwinge mich dazu, ihn zu ignorieren. Stattdessen überwinde ich mich und knie mich an den Rand des Abgrunds. Der Luftzug ist deutlich zu spüren. Es zieht kalt herauf. Nach wenigen Meter starrt mich eine bodenlose, alles verschlingende Dunkelheit an. Ich soll da hinunter? Niemals. Das würde mich verschlucken und nie wieder preisgeben. Sowas machen die Schauspieler in Endzeit-Filmen kurz bevor die Situation eskaliert. Ich schüttel den Kopf. Trotz aller Vernunft fasse ich die Kante. Mein Finger rutscht über den Abgrund. Es fühlt sich rau und rissig an. Wie Stein, der nicht poliert, sondern mit Schmiergelpapier bearbeitet wurde.

Kein gutes Gefühl. In meinen Rücken kann ich Aljans Augen spüren, wie er mich beobachtet.

Ich drehe mich zu ihm um. Tatsächlich hat er den Blick auf mich gerichtet. "Kannst du mich mal festhalten?", bitte ich. "Ich habe da eine Idee."

Er macht die wenigen Schritte zu mir und kniet sich neben mich.

"Festhalten", wiederhole ich. Für das was ich vorhabe, brauche ich ihn an meiner Seite.

Er zögert einen Augenblick, legt dann aber beide Arme um mich, einen um meine Vorderseite und einen um meinen Rücken.

"Gut festhalten", ermahne ich und greife ein wenig tiefer in den Abgrund hinein. Die kalte Luft kribbelt auf meinen Armen.

Er verstärkt seinen Griff. "Keine Sorge, ich halte dich."

Ich lehne mich ein wenig mehr in seine Arme und spüre, dass ich ihm vertrauen kann. Er hält mich sicher. Dann schließe ich die Augen. Konzentriere mich auf mein Gefühl. Spüre ich etwas? Außer der Kälte? Nicht wirklich. Ich taste blind herum. Dann stelle ich mir vor, heilende Hände zu haben. Mit aller Kraft bilde ich mir ein, meine Finger könnten Wärme erzeugen, sie in die Dunkelheit hinabschicken und den Riss ausfüllen. Ihn irgendwie heilen. Ich versuche fest daran zu glauben. Ganz ganz fest. Es muss bescheuert aussehen, wie ich meine Hände mit geschlossenen Augen über dem Abgrund tanzen lasse und dabei in Aljans Armen hänge. Meine Augen öffnen sich. Vor mir liegt die abgrundtiefe Dunkelheit. Es hat sich nichts getan. "Schade", murmele ich.

Aljan seufzt und lockert den Griff. Ich sinke zurück auf meine Fußballen.

"Was hast du versucht?"

"Die Kraft meiner heilenden Hände." Ich lache.

"Danke, dass du es wenigstens versucht hast." Aljan seufzt erneut und streicht sich durch die Haare. Er kniet immer noch eng neben mir.Dann streckt er die Füße aus und lässt sie hinunterbaumeln, während er sich mit den Händen auf dem Boden abstützt. Ich mache es ihm nach. Wir sitzen da, wie zwei Freunde am Grand Canyon. Nur, dass wir uns mitten in einer Nachbildung des ägyptischen Totengerichts befinden.

"Gern geschehen." Die Waagschalen auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich noch immer auf gleicher Höhe. Auf der einen liegt ein Gewicht, auf der anderen ein Gegenstand, den ich nicht näher zuordnen kann. Noch während ich die Waage betrachte, geht ein Ruck durch die Kammer. Die Schalen beginnen zu wackeln. Mal in die eine, mal in die andere Richtung. Auf und ab. Neben mir schreckt Aljan auf und zieht die Beine aus dem Abgrund. Jetzt spüre ich es auch. Irgendetwas grummelt. Es kommt von tief unten. Aus dem Spalt im Boden vor uns. Auch ich ziehe meine Füße schnell nach oben und richte mich auf. Aljan steht schon. Er greift nach meiner Hand und zieht mich zu sich. Weg vom Abgrund. Eine Falte liegt auf seiner Stirn. Das Grummeln wird lauter. Klingt nun fast wie Donner. Unterirdischer Donner. Ein Gewitter?

Der Boden bebt. Aljans Hand verstärkt ihren Griff um meine. Erneut hält er mich fest. Der Boden wackelt immer stärker und mit ihm die beiden Waagschalen der Totenwaage. Auch die Ränder des Abgrunds beben. Ohne Aljans Halt hätte ich vermutlich die Balance verloren, aber er hält mich an Ort und Stelle. Ohne es bemerkt zu haben, habe ich einen weiteren Schritt auf ihn zu gemacht. Für einen kurzen Moment schöpfe ich Hoffnung, der Riss könnte sich dank meiner Heilkünste und Willensanstrengung tatsächlich schließen. Wie gebannt starre ich abwechselnd auf den Spalt und auf die zuckende Waage. Schließt er sich? Aber außer das alles bebt, bleiben die klaffenden Ränder unverändert.

Dann schwillt das Donnergrollen erneut an. Ein mächtiger Rums hallt durch die Halle, der Boden türmt sich auf und ich verliere doch den Halt. Selbst Aljan kann sich nicht mehr halten. Aber er lässt mich nicht los. Ich reiße ihn mit zu Boden, wo ich liegenbleibe. Aljan wirft sich über mich. Einen Augenblick verharren wir so. Dann löst er sich von mir.

"Alles in Ordnung?", fragt er leise. Sein Atem streift mein Ohr. Er kniet neben mir und schaut mich an. Ich nicke. Erst jetzt bemerke ich, dass sich alles wieder beruhigt hat, alles außer meinem Herzschlag. Die Waagschalen schwingen nur noch leicht hin und her. Der Abgrund vor uns schweigt wieder. Der Boden verharrt still, wie es ein zuverlässiger Boden tun sollte. Und dann werfe ich einen Blick hinter mich und mir entfährt ein erneuter Schrei.

Aljan greift erneut nach meiner Hand.

"Ich weiß", sagt er. "Ich fürchte, unser Rückweg ist gerade um einiges schwieriger geworden."

"Das darf doch nicht wahr sein", stöhne ich. Vor uns erstreckt sich ein Riss zu beiden Seiten und hinter uns nun ebenfalls. Ein breiter, klaffender Riss, der von einer Wandseite zur nächsten reicht. "Und was machen wir jetzt?"

Aljan zieht mich zu dem Bündel, das gefährlich nahe an den Abgrund gerutscht ist und hebt es auf.

"Da kommen wir nicht drüber", stellt er fest.

"Nein", bestätige ich, "der Rückweg ist uns versperrt."

"Tja", Aljan klingt bedauerlich, "dann bleibt uns jetzt wohl nur noch dieser Weg." Er zeigt in Richtung der rechten Ausbuchtung der Kammer. Dort reihen sich weitere Statuen in Lebensgröße zu verschiedenen Szenen. Ganz am Ende befindet sich ein weiterer Durchgang. Er liegt im Schatten.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now