59) Eine Handvoll Angst

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Vor uns liegt wüstes Land unter einer sengenden Sonne. Roter Sand, trockene Steine, tote Gerippe von Bäumen und kein Tropfen Wasser.

"Wo sind wir hier?"

"In meiner persönlichen Hölle?"

"In der Wüste?"

"Lass uns einen Spaziergang machen und ich zeige dir alles. Außerdem gibt es einiges, das wir noch besprechen sollten."

Ich nicke schweigend. Aljan hakt sich bei mir unter und führt mich durch den Sand.

"Ich wollte es mir nicht zu gemütlich machen, nur weil ich es könnte. Ich wollte nicht vergessen, wer ich bin. Ich will nicht aufhören, dankbar und demütig zu sein."

"Und das hier hilft?" Ungläubig schweift mein Blick über die karge Landschaft, die toten Bäume, die so ganz das Gegenteil zu Andens wildem Wald sind.

"Ich hoffe es", sagt Aljan. "Das hier ist aus einem meiner Lieblingsgedichte. Komm in den Schatten unter dem roten Fels, und ich werde Dir etwas zeigen. Ich zeige Dir Angst in einer Handvoll Staub."

"Klingt ja einladend." Ich folge ihm trotzdem, wie ich ihm schon immer gefolgt bin. Von Anfang an. Ich scheine gar keine andere Wahl zu haben.

Unter einem großen Felsen finden wir tatsächlich ein wenig Schutz vor der Sonne. Ich sinke neben Aljan in den Boden. Er greift sich eine Ladung Sand und lässt sie durch seine Finger rieseln.

"Tod kann Leben bedeuten", sinniert er. "Denk an deinen Schöpfer, ehe das Leben zu Ende geht – so wie eine silberne Schnur zerreißt oder eine goldene Schale zerspringt, so wie ein Krug bei der Quelle zerbricht oder das Schöpfrad in den Brunnen fällt und zerschellt. Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er genommen wurde; und der Lebensgeist geht wieder zu dem, der ihn gegeben hat. Ja, alles ist vergänglich und vergeblich."

Ich mustere ihn scharf, aber er scheint weit weg in Gedanken zu sein.

"Vergeblich?", hallt meine Stimme wie ein vom Wind getragenes Echo.

Er schaut ruckartig auf.

"Ich war in Gedanken. In letzter Zeit kreist alles um das eine. Leben. Sterben. Ende. Anfang. Und mit der Zeremonie wird auch für uns ein neues Kapitel beginnen."

Jetzt mustert er mich gründlich. "Bist du sicher, dass du dazu bereit bist?"

Meine Kehle ist mit einem Mal genauso trocken wie unsere Umgebung. Ich schlucke schwer. "Ich glaube schon, aber es lässt sich so oder so nicht ändern. Werde ich es bereuen?"

Aljan kommt nicht mehr dazu, mir eine Antwort zu geben, denn wie aus dem Nichts steht eine Frau vor uns. Direkt vor unseren Füßen bleibt sie stehen, fuchtelt mit den Händen, dass die Goldkettchen an ihren Gelenken klimpern und sich einige dunkle Haarsträhnen aus ihrem Kopftuch befreien und ihr ins Gesicht fallen. Sie ist nicht mehr die Jüngste, aber ihr genaues Alter lässt sich mit dem Rouge auf ihren Wangen, den roten Lippen und den schwarzen Augen nicht beziffern.

"Zieh eine Karte", zischt sie und hält mir etwas vor die Nase. Ein Kartendeck fächert sich auf. Abgegriffene Karten, deren dunkelblauer Rücken mit goldenen Sternbildern, Sonnen und Monden gemustert ist.

"Aljan?", frage ich unsicher.

"Madame Sosostris." Er nickt knapp. "Zieh eine Karte. Sie sagt dir die Zukunft."

Zaghaft betaste ich die dargebotenen Karten, als wäre eine davon für mich bestimmt und ich könnte es fühlen. Aber wie immer, wenn ich vor einer Wahl stehe, spüre ich nichts. Sie fühlen sich alle gleich an. Also seufze ich und gebe mir einen Ruck. Jede wird so gut wie die andere sein.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now