10) Nomen et Omen

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"Was ist das eigentlich? Das Buch mit den sieben Siegeln?" Ich schaue von meinem Dessert auf. Die Schokocreme ist köstlich, obwohl ich längst satt bin.

Auch Aljan schaufelt die Löffel in immer längeren Abständen in den Mund.

"Es ist eine innen und außen beschriebene Schriftrolle mit sieben Siegeln versehen, die bis jetzt keiner von uns zu öffnen in der Lage war. Wie gesagt, bis vor Kurzem. Du kennst es vielleicht aus der Offenbarung des Johannes?"

Ich schüttel den Kopf. "Nie gehört. Und darin stand ausgerechnet mein Name?"

Er nickt. "Dalerana Jordbarn. Wusstest du, dass es diesen Namen so nur einmal auf der gesamten Erde gibt?" Seine blauen Augen sind auf mich gerichtet.

Ich schüttel erneut den Kopf. "Nein, wusste ich nicht. Meine Eltern waren sehr kreativ bei der Namenswahl. Also bin ich doch einzigartig." Ein wenig stolz bin ich auf diese Offenbarung jetzt doch.

"Was bedeutet der Name eigentlich?", will Aljan wissen.

Wieder kann ich nur die Schultern zucken.

"Aber du weißt sicher, was dein Nachname bedeutet?" Ein leichtes Grinsen hat sich auf seinen Gesichtszügen eingenistet.

"Nein, nicht genau. Es ist ein skandinavischer Name." Meine Antwort wird von einem weiteren Kopfschütteln begleitet.

"Stimmt", bestätigt mir Aljan, "und es heißt übersetzt nichts anderes wie Erdenmädchen. Sehr passend, findest du nicht?"

Ich wälze diese Bedeutung für einen Moment in meinem Kopf um. "Interessant. Was stand noch in diesem Buch?"

Er lehnt sich zurück. "Nun die ersten sechs Siegel sind leicht zu verstehen. Sie zu öffnen war nicht das Problem. Erst das letzte Siegel." Er muss meinen ratlosen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben. Er seufzt. "Gut, lass mich von vorne beginnen. Also laut der Johannes-Offenbarung werden beim Öffnen der ersten vier Siegel nacheinander die vier apokalyptischen Reiter auf die Erde losgelassen. Die vier Reiter, die das Ende der Welt einläuten. Von ihnen hast du schon einmal gehört, oder?"

Ich nicke. "Red weiter. Die Geschichte klingt interessant."

Er fährt sich über die Haare und atmet lange aus. "Ich kann dir später ein Gemälde von Viktor Vasnetsov zeigen, auf dem sie in aller Pracht und Herrlichkeit dargestellt sind. Der Holzschnitt von Albrecht Dürer und viele andere Darstellungen sagen mir dafür weniger zu, aber ich schweife ab." Er macht eine kurze Pause. Ich wage nicht, ihn zu unterbrechen.

"Sie stehen für Machtmissbrauch, Krieg, Hunger, für Krankheit und Tod. Keine sehr angenehme Gesellen."

Ich schaudere. "Wirklich nicht. Und die anderen drei Siegel?"

"Die sind auch nicht besser. Das fünfte lässt die Seelen der Märtyrer sichtbar werden, die Vergeltung für ihren Tod verlangen."

Ich schlucke. "Klingt wirklich nicht gut."

"Das sechste Siegel lässt die Erde beben, die Sonne färbt sich schwarz, der Mond wird wie Blut und die Sterne fallen vom Himmel. Zeichen des nahenden Weltuntergangs. Für manche auch ein Zeichen für die Errettung der Gerechten."

Endlich ein Begriff, der mir etwas sagt. "Das jüngste Gericht?"

"Genau. Laut Überlieferung darf nur das Agnus Dei, also Jesus Christus selbst, die Siegel öffnen und das Weltgericht eröffnen. Sieben Engel mit Posaunen und ein achter mit einem Rauchfass werden erscheinen. Nun, fast könnte man meinen, die Gelehrten haben sich getäuscht. Nicht das Ende der Welt steht bevor, sondern unseres. Das Ende der Unterwelt."

Ich überlege kurz, wähle meine nächsten Worte mit Bedacht. "Und dein Vater hat einfach die Siegel gebrochen? Vielleicht hat er damit jemanden im Himmel erzürnt? Sind Himmel und Hölle nicht schon immer gegensätzliche Konzepte gewesen? Gegenspieler? Gott und Luzifer?"

Aljan zuckt die Schultern. "Ich weiß es nicht. Der Verfall hat lange davor begonnen. Und mein Vater hat viele frevelhafte Dinge getan, die den Zorn des Himmels erwecken könnten. Sagen wir so, vielleicht wäre eine Strafe nicht unverdient. Aber warum ausgerechnet jetzt? Warum so? Und warum spuckt es uns deinen Namen aus?"

"Das sind ziemlich viele Fragen auf einmal. Und ziemlich wenige Antworten."

Unsere Dessertschalen liegen halbleer und unberührt vor uns. Mir ist der Appetit vergangen.

"Gar keine Antworten, um präzise zu sein." Aljan bringt es auf den Punkt.

"Woher habt ihr dieses Buch überhaupt?"

Wieder zuckt mein Gegenüber mit den Schultern und schüttelt den Kopf. "Ich weiß es nicht. Mein Vater sammelt Kuriositäten aller Art. Kunstwerke, Bücher, Schriftrollen hauptsächlich. Er hat da seine Beziehungen, um an diese Dinge zu kommen. Es hat mich nie interessiert, aber ich werde ihn danach fragen."

"Vielleicht sollen wir ihm ein paar weitere Fragen stellen. Mir scheint, wenn einer Antworten weiß, dann er."

Mich fröstelt bei dem Gedanken, mit Tenebris über derart unheilverkündende und düstere Themen reden zu müssen. Er wirkt viel bedrohlicher als sein Sohn. Auf meinen Armen hat sich eine Gänsehaut ausgebreitet.


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Ich weiß wirklich nicht mehr, was der Name Dalerana bedeutet. Aber in irgendeiner Sprache hat er eine Bedeutung. Die hat mir nämlich GoogleTranslator ausgespuckt. Aber ich erinnere mich nicht mehr, was ich in der Suchanfrage hatte... Wer mag, darf gerne knobeln.

Aljan bedeutet auch irgendetwas. Was, lässt sich sogar relativ leicht herausfinden. Na, wer schafft es?

Eigentlich wollte ich euch längst schon zum Hell's Gate führen, aber ich kann die beiden doch nicht auf den Nachtisch verzichten lassen. Und die apokalyptischen Reiter haben sich jetzt ganz ungebeten einfach selbst eingeladen. Hoffe, euch hat das Kapitelchen dennoch gefallen?

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now