54) Nemesis

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Ich kann nicht verhindern, dass ich stolpere und das Gleichgewicht verliere. Die Verbindung zu Erits Hand auf meinem Rücken bricht ab, genauso wie die zum Boden.

Es besteht keine Chance, dass ich mich wo festhalten oder abfangen kann. Ich werde fallen. Es ist nicht mehr aufzuhalten, der Absturz hat begonnen.

"Guten Flug", haucht Erit, dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig.

Die Eule gleitet über den Abgrund auf uns zu. Sie stößt einen langgezogenen Schrei aus. Dann fliegt sie knapp über meinem Kopf hinweg.

Gleichzeitig spüre ich eine unsichtbare Macht wie eine Mauer, die sich um mich herum auftürmt, wie ein unsichtbares Fangnetz, das sich um mich legt und mich zurück auf die Füße schiebt. Ganz sanft und behutsam geleitet es mich zurück auf festen Grund.

Im nächsten Moment landet der Vogel auf einem Ast. Die gelben Augen leuchten, dann blinzelt er und öffnet seinen Schnabel.

"Ich rufe Dich, Nemesis! Höchste!"

Erit beobachtet alles reglos. Nur an seinen aufgerissenen Augen und den bebenden Nasenflügeln kann ich sehen, wie aufgebracht er ist. Bei den gekrächzten Worten der Eule zuckt er unwillkürlich zusammen.

"Steinkauz." Der Vogel streckt seine Flügel aus und schüttelt sich, sodass sich seine braunweißen Federn aufblustern.

"Steinkauz", wiederholt er und endlich verstehe ich.

Ich nicke kurz und murmele meinen Dank, was der Vogel mit einer Kopfbewegung quittiert.

"Nemesis", krächzt er jetzt lauter. "In alles schaust Du hinein. Allem lauschend, alles entscheidend. Dein ist der Menschen Gericht."

Erit weicht einige Schritte zurück.

Der Steinkauz sitzt ruhig auf seinem Ast. Seine gelben Augen ruhen abwechselnd auf mir, auf Erit oder wandern zu einem Punkt weit über dem Abgrund, als würde er dort etwas sehen.

Suchend lasse ich meinen Blick über den Himmel streifen und tatsächlich erkenne ich dort etwas Seltsames. Etwas fliegt dort am anderen Ende des Waldes. Es muss groß sein und kommt auf uns zu. Beim Näherkommen erkenne ich, dass es sich nicht um ein Etwas, sondern gleich um mehrere handelt. Es müssen vier Reiter der wilden Jagd sein, die da direkt auf uns zutraben. Aber nicht Odin und Frigga, sondern eine andere Version. Vier Reiter mit flatternden Gewändern auf vier verschieden farbigen Pferden. Das vorderste ist ein Schimmel. Auf ihm sitzt ein Reiterin mit dunklen langen Haaren, die hinter ihr wehen. Ihr Kopf wird von einer Krone geschmückt. Sie hält die Zügel mit einer Hand und in der anderen schwingt sie einen enormen Bogen. Die dazugehörigen Pfeile befinden sich in einem ledernen Köcher auf ihrem Rücken.

"Dein Auge besing ich, das alles erblickend, vom Himmel das Leben beschaut", krächzt der Steinkauz von seinem Ausguck auf dem Baum.

Erit ist bleich geworden. Er taumelt einige Schritte weiter zurück.

Die Reiterin landet mit ihrem Pferd auf dem Boden zwischen mir und Erit.

"Du, welche das Unrecht straft, und nach der Wahrheit billigem Recht Ungleiches versöhnet. Nur du trittst mit rächendem Fuß unrechtliche Werke, Feindin der Ungerechten."

Der Schimmel kommt schnaubend zum Stillstand.

"Göttin, wohlan, mit edlen Gesinnungen komm."

Kurz nacheinander setzten auch die verbliebenen drei Reiterinnen zur Landung an.

Die nächste bringt ihr Pferd neben der ersten zum Stehen. Es ist ein Fuchs mit feuerfarbenem Fell. Um ihr weißes Kleid ist auf Hüfthöhe ein Waffengürtel gebunden, in dessen Scheide ein gewaltiges Schwert ruht.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenOn viuen les histories. Descobreix ara