44) Die Quelle des Bösen

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Ich folge Aljan ein weiteres Mal durch den Gemäldegang. Er wirkt fremd ohne die farbigen Nebelschwaden. Auch ohne Tenebris würde etwas fehlen. Er ist nicht nur der Herr, sondern das Herz dieser Welt. Ich darf ihn nicht enttäuschen. Er darf nicht sterben.

Aber ich scheuche den Gedanken aus meinem Kopf. Noch ist er nicht tot und er wird es auch nicht sein. Nicht, wenn wir es verhindern können. Irgendwie.

"Was sind das für Ansichten, denen wir nachgehen?" Ich will mich an die Hoffnung klammern, dass Aljan inzwischen weiß, was zu tun ist und ich will nicht daran denken, was gerade alles in Tenebris Schlafgemach geschehen ist oder dort noch geschehen könnte, während wir weg sind.

"Die Wilde Jagd", erklärt Aljan. "Die Szenen aus Vaters Studierzimmer."

"Was ist damit?" Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will.

"Es ist kein Zufall, dass Vater sich damit beschäftigt. Du hast Sophias Worte gehört: Sucht dort, wo ihr noch nicht wart. Ich habe dir die ägyptische und die griechische Totenwelt gezeigt."

"Aber es gibt noch so viele andere. Du hast mir auch dein Domizil nicht gezeigt."

Aljan schmunzelt bei meiner Bemerkung. "Und ich habe auch nicht vor, das zu ändern. Wir gehen zu den Germanen. Irgendetwas sagt mir, dass wir dort fündig werden."

"Was genau hoffst du dort zu finden? Was ist so speziell an der Wilden Jagd?" Kaum dass die Frage meinen Lippen verlassen hat, bereue ich bereits, gefragt zu haben. Aber ich brauche Informationen - möglichst schnell und möglichst viele davon und wer wäre dafür besser geeignet als mein Begleiter. Aljan jedenfalls holt tief Luft.

"Über die Wilde Jagd gibt es viele Sagen. Die Quellen sind überall verbreitet. Von Skandinavien bis Italien, sogar in Kanada gibt es eine Version davon. Götter, die jagend mit einer Meute über den Himmel zogen, kannten sogar schon die alten Griechen. Hekate, die mit ihren Hunden durch die Wälder zieht. Die jagende Artemis. Apollo."

"Nicht abschweifen", ermahne ich. "Die Wilde Jagd? Die Germanische?"

"Ich schweife nicht ab." Aljan hebt die Hände und gestikuliert. "Während manche Quellen von einem ganzen Heer sprechen, ist es bei anderen nur ein einziger, gewaltiger Jäger. Der bärtige Riese. Ein Gott in riesenhafter, gespenstischer Gestalt. Manche geben ihm einen Namen und führen ihn auf Wodan zurück. Wovon sich auch der Begriff wütend ableitet. Vater vermutet sogar noch eine ältere Version, aber nichts desto trotz, hat er die Wilde Jagd umgesetzt. In den vielen kursierenden Versionen. Jede Nacht jagt eine andere davon über den Himmel von Helheim. Mal angeführt von nur einem gigantischen Gott, mal eine ganze Meute."

"Beeindruckend. Aber wie sollen wir dann wissen, welche die Richtige ist oder welche wir brauchen?"

Ich hoffe, dass Aljan auf diese Frage genauso eine Antwort findet, wie er unter der Vielzahl der Türen und Eingänge in die Totenreiche hier, stets die richtige findet. Er enttäuscht mich nicht.

"Darum geht es nicht. Alle sind die Richtige und gleichzeitig keine. Das sind alles nur Visionen. Aber steckt hinter jeder Vision nicht auch ein Funke Wahrheit? Den gilt es zu finden, um daraus ein Feuer zu entfachen."

"Du sprichst in Rätseln, so wie es anscheinend jeder hier zu tun pflegt", werfe ich ihm vor. "Hoffentlich ist das nicht ansteckend. Aber könntest du jetzt bitte Klartext reden? Was suchen wir?"

"Diese Sagen haben mich an etwas erinnert. Also manche nennen eine ganze Meute, manche nur einen Gott und wieder andere, gehen von einem Paar aus. Von Wodan und Frigg. Gott und Göttin. Man erzählt sich, dass der Wind braust und heult, von aufgeregtem Schreien der Eulen, bellenden Hunden. Auch Hekate hat Hunde. Eulen sind in vielen Religionen Todesboten und Unglücksbringer. Schlechte Omen. Auch Frigg ist mit ihren Hunden unterwegs. Sie ist eine Windgöttin, wird auch die Windsbraut genannt. Es geht alles auf ein und denselben Ursprung zurück. Vielleicht haben wir den Kern gefunden. Die Quelle alles Bösen. Den Ursprung. Das meinte ich vorhin." Aljan glüht vor Begeisterung.

"Gut, dann lass uns die Wilde Jagd aufsuchen. Egal welche davon und den Urfunken finden, damit wir ein Feuer entfachen können." Insgeheim hoffe ich, dass uns dieses Feuer Erleuchtung bringen wird und wir uns nicht daran verbrennen werden. Aber wie heißt es so schön, die Hoffnung stirbt zuletzt und Aljans Begeisterung ist ansteckend wie ein Zündfunke.

"Wir sind da", sagt er schließlich und bleibt vor einer schwarzen Tür stehen, auf der ein Baum zu sehen ist. Unten das Wurzelwerk und oben die Krone. Rund herum windet sich eine Schlange, die sich am Ende wieder in ihren eigenen Schwanz beißt. Das Bildnis erinnert mich an etwas, aber bevor ich darauf komme, schiebt Aljan die Flügeltüren zur Seite und die Gravur verschwindet aus meinem Blickfeld. Sicher war es auch nicht so wichtig.

"Nach dir." Einladend hält er seinen Arm auf und ich trete an ihm vorbei.

"Auf in ein neues Abenteuer", murmele ich und hoffe wieder besseres Wissen endlich auf einen Fortschritt und auf Erfolg.

"Wird schon schief gehen", bestärkt mich Aljan, der offenbar in eine ähnliche Richtung gedacht hat.

Ein weiteres Mal befinde ich mich in einer völlig neuen Welt. Das erste, was ich bewusst feststelle, ist, wie kalt es hier ist. Kalt und dunkel. Unwillkürlich schlinge ich meine Arme um meine Brust. Unberührter Schnee bedeckt den Boden, so weit das Auge reicht. Ein eisig scharfer Wind peitscht. Am Himmelszelt funkeln Sterne.

"Ein wärmendes Feuer wäre jetzt wirklich nicht schlecht", jammere ich.

Aljan lacht. Sein Atem kringelt sich in weißen Wölkchen gen Himmel, wo sie sich in der Dunkelheit auflösen.

"Nutze deine Vorstellungskraft."

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now