6) Die Macht der Zerstörung

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Was ich hinter diesem Tor sehe, gleicht in nichts dem, was ich kenne. Rauchschwaden steigen aus runden Kratern empor, dazwischen verlaufen zackige Felsformationen und ein riesiger Schlund, dessen Ende in tiefer Dunkelheit versinkt. Auch daraus wabern Dunstschleier hervor. Es gibt keine Decke, kein Gewölbe oder einen Himmel - wie auch. Das, was vor mir liegt, verfinstert sich in undurchdringbare, endlos erscheinende Schwärze.

"Hört es irgendwo auf?", frage ich. Überhaupt erinnert mich die Szenerie eher an ein Bild aus dem All, als an einen Ort unter der Erde. Ein schwarzes Loch? Ein von Zeit und Raum vergessener Ort? Der irgendwo in meiner Vorstellungskraft existiert?

Tenebris streckt eine knochige Hand aus und zeigt über sein Reich. "Mein Reich wohin du blickst. Es ist endlos. Aber es verfällt."

"Wohnt hier jemand?", frage ich und komme mir in diesem Moment unsagbar dämlich vor. "Naja, ich meine, kann man hier leben?"

Den Traum von einem Fünf-Sterne-Zimmer kann ich mir mit Sicherheit abschminken. Vielleicht sollte ich meine Erwartungen gänzlich herunterschrauben.

Aljan schmunzelt, aber ich erkenne einen wehmütigen Zug in seinem Gesichtsausdruck. "Man konnte", erklärt er. "Jetzt wohl eher nicht mehr. Früher war es hier schön." Mit hochgezogenen Augenbrauen lasse ich meinen Blick über die dunstverhangene Einöde schweifen. Kein Lebewesen, nicht einmal eine Pflanze oder irgendetwas Natürliches fällt mir ins Auge.

"Bis auf Aljan sind inzwischen alle verschwunden. Er ist der letzte meiner Söhne, der noch ausharrt. Aber er war schon immer unentschlossen und antriebslos. Jetzt ist das wohl mein Glück, sonst hätte ich selbst hinauf gehen und dich holen müssen."

Ich mustere meinen Begleiter. Er hat die Lippen fest aufeinandergepresst, den Blick stur geradeaus gerichtet.

"Jedenfalls bin ich froh, dass du hier bist", fährt der Fürst unbeeindruckt fort.

"Achja, richtig", bemerke ich, "ich soll diesen Schlamassel ja beheben."

Tenebris nickt. "Nicht sofort! Aber es wäre schön, wenn du mich nicht mehr so lange warten lässt. Ich denke für heute hast du jedoch genug gesehen. Aljan, bringst du unseren Gast auf das Zimmer, das du für sie vorbereitet hast?"

Obwohl er es als Frage formuliert, klingt es eher wie ein Befehl. Tenebris scheint auch keine Antwort zu erwarten.

Aljan wendet sich mir zu. "Komm mit, Dalerana. Ich zeige dir deine Schlafstätte." Er dreht sich zu dem Tor um, durch welches wir gekommen sind. Die Symbole darauf kommen mir langsam vertraut vor. Tenebris' Blick schweift über die Weiten seines Reiches, er schenkt uns keine Beachtung mehr. Seine weißen Haare wehen im Wind. Er steht aufrecht und gerade, als könne ihn auch diese Katastrophe nicht umhauen.

"Dein Vater", flüstere ich, "ist sehr speziell."

Aljan lacht trocken. "Das ist dir also auch nicht entgangen."

Ich zucke die Schultern. "Starrsinn und Eigensinn des Alters. Bestimmt ist er nur frustriert, weil ihm die Kraft fehlt, selbst etwas zu unternehmen. Aber wie hast du es geschafft, zu seinem Fußabtreter zu werden?"

Jetzt lacht mein Begleiter leise. "Er war nicht immer so. Erst seit das alles begonnen hat. Wir hatten dennoch nie das beste Verhältnis."

"Und trotzdem bist du derjenige, der noch hier ist. Wieviele Geschwister hast du? Er sprach nur von Söhnen?"

"Du hast doch seine bescheidene Meinung von mir gehört. Ich bin eben unentschlossen und antriebslos. Für mich war von Anfang an klar, dass ich bleibe und nicht feige davonrenne wie meine sechs Brüder. Beim kleinsten Anzeichen von Unannehmlichkeiten siehst du sie nur noch von hinten. Zwei von ihnen waren übrigens auch auf dieser Party."

"Ach, die beiden Männer, mit denen du kurz gesprochen hast?" Ich folge ihm den schmalen Gang entlang, aber zu meinem Erstaunen öffnet sich zu meiner Linken ein Treppenaufgang. In den Fels gehauene Stufen führen nach oben. Diese Abzweigung war mir auf dem Hinweg gar nicht aufgefallen. Kein Auge für Details, wohl aber für gutaussehende Männer. Beide groß und stattlich. Beeindruckender Körperbau unter ihren engen Shirts. Dunkelhaarig, scharf geschnittene Gesichtszüge waren mir auf der Party nicht entgangen und ich erinnere mich, mich kurz gefragt zu haben, ob die drei miteinander verwandt sind.

Aljan nickt und bedeutet mir, vor ihm die Stufen hinaufzusteigen. Ich folge.

"Die Lieblingssöhne meines Vaters und auch die ersten, die sich aus dem Staub gemacht haben." Die Verbitterung in seiner Stimme ist nicht zu überhören, auch wenn er hinter mir geht. "Er schätzt ihre Entschlossenheit und ihren Egoismus."

"Familie ist also offenbar kein gutes Thema. Lass uns über etwas anderes sprechen", schlage ich vor.

"Meinetwegen", brummt Aljan. "Worüber möchtest du reden?"

Die Stufen münden in einen weiteren Gang. Blank polierte Fliesen glänzen dunkel, manche von ihnen mit rätselhaften Symbolen versehen, dieselben Nebellichtfackeln alle paar Meter verströmen ein diffuses Licht, weder besonders einladend noch abschreckend, wenn ich die Arme erheben würde, könnte ich die raue Decke berühren. Ich deute auf den Boden. "Diese Zeichen. Was sind das?"

Aljan folgt meinem Blick. "Spielereien, wenn du so willst. Verziehrungen, die mein Vater hat anbringen lassen. Sie haben keine wirkliche Bedeutung."

"Und die Symbole an den Türen?"

"Das", er lacht kurz auf, "unsere Art, Türen zu öffnen. Zur Unterwelt gibt es keinen Schlüssel."

"Interessant", murmele ich. "Du meinst, wenn ich die Reihenfolge kenne, kann ich hier eintreten?"

"Im Prinzip schon. Trotzdem erhalten wir kaum Besucher."

Ich folge ihm den Gang entlang.

"Ich verstehe gar nicht warum. Ist doch alles so einladend hier." Mit den Händen vollführe ich eine vage Geste.

"In der Tat. Sehr geschmackvoll dekoriert. Warte, bis du erst dein Zimmer siehst." Aljans dunkle Augen verziehen sich zu einem Schmunzeln. Kleine Fältchen, wie in Marmor gemeißelt, erstrecken sich auf seinen Wangen.

"So schlimm?", frage ich.

"Keine Sorge, hier gibt es auch schöne Orte. Und noch nicht alle hat der Verfall heimgesucht. Du musst wissen, mein Vater sammelt alle Werke, in denen sich die Menschen die Unterwelt ausgedacht haben. Egal ob Kunst oder Literatur. Von Dante bis King findest du hier alles wahr geworden. Von der Unterweltvorstellung der alten Griechen bis zu jener der Kulturen der amerikanischen Ureinwohnern. Wir könnten eine Flußfahrt auf dem Styx machen. Allerdings müsste ich die Fähre selbst steuern. Charon hat sich davongemacht."

Ich schaue ihn aus großen Augen an. "Du verarscht mich!"

"Nein!", protestiert Aljan. "Wirklich. Du findest hier alles zum Leben erweckt, was jemals irgendwo über die Unterwelt geschrieben oder erdacht wurde. "Du willst die neun Ringe der Hölle hinabsteigen? Ich kann dich führen. Ist allerdings eher abschreckend, was du dort sehen wirst und ziemlich mitgenommen. Wir könnten im Fegefeuer grillen?"

Ich denke kurz über seinen Vorschlag vor. "Klingt nicht sehr verlockend."

Er überlegt. "Ich könnte dir Niflheim zeigen. Seit Hel fort ist, wirkt es fast einladend. Abgesehen davon, dass es kalt und finster ist. Aber Isa ist schön und die Funken sind ein sehenswertes Schauspiel."

"Vielleicht später", wiegele ich ab.

Aljan bleibt stehen. "Wie du willst. Hier wären wir. Du brauchst nur rufen, und ich komme."

Eine unscheinbare Tür aus Holz öffnet sich unter Aljans Griff. "Herzlich Willkommen."

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt