Prolog

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„In order to be irreplaceable one must always be different." - Coco Chanel

Sie war hübsch. Eines dieser hübschen, beneidenswerten Mädchen, deren lange Haare ihr wellig über die Schultern flossen. Ihre perfekt geschwungenen Lippen leuchteten in einem teurem Lippenstift auf und ihre Augen strahlten. Vor Arroganz, vor Perfektion...
Aber in diesem Moment, da war sie nicht perfekt. Denn Angst ließ sie erstarren, als sie einen Schrei vernahm. Sie drehte sich in Zeitlupe herum. In ihren meeresblauen Augen, nichts als Angst. Als würden die Wellen sich überschlagen. Sie rannte die steinerne Wendeltreppe hinunter, den Schreien hinterher, mit ihren Highheels, die ihr den Halt nahmen. Aber sie war geschickt, geübt mit diesen Schuhen, in der sie zu der Party gehen wollte. Zu der alle gingen und zu der sie natürlich auch gehen wollte. Zu der sie gehen MUSSTE. Wie jeder andere mit einem gewissen Ruf eben auch. Aber all diese Gedanken hatten in ihrem Kopf gerade keinen Platz. Da waren nur die Schreie.
Als sie am Fuße der Treppe angelangte, ließ sie ihre Tasche auf den Boden fallen und ihr Klammergriff an ihrem Kleid versteifte sich. Ihr schönes Gesicht entgleiste und trotz dem Anblick der sich ihr bot, fasste sie sich recht schnell wieder.
Ihr Vater schrie ihre Mutter an und klammerte sich an ihr Shirt , aber in diesem Moment konnte sie seine Worte nicht hören.  Als wäre alles auf stumm gestellt und sie nur ein unsichtbarer Beobachter. Der nichts tun konnte, außer zu zusehen. Sie sah nur, wie sich die Lippen ihres Vaters bewegten, als würde er unaufhörlich schreien und sie roch den beißenden Geruch der Alkoholflasche, die zersplittert neben ihr auf dem Boden lag. Aber egal wie sehr er schrie, wie sehr ihre Mutter bitterlich weinte, sie war wie eingefroren. Unfähig auch nur einen Muskel zu rühren. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Keinen Ton konnte sie herausbringen. Stattdessen hauchte sie nur ein: „Stop, hört auf!" Aber es schien sie nicht einmal jemand zu bemerken. Als wäre sie ein schöner Geist.
„Du blöde Schlampe!" sagten seine Augen und seine Lippen wiederholte es. Ihre Mutter lag schon gekrümmt auf dem Boden, nachdem ihr Vater sie gewaltsam von der Couch gerissen hatte und weiter auf sie einschlug. Erst nur mit der flachen Hand und dann plötzlich, schloss er die Hand zu einer geballten Faust, mit der er ihr nicht nur ins Gesicht schlug. Auch in die Magengrube, wahllos schlug er auf ihren ganzen Körper ein, als würde all die Wut, eine jahrelang angesammelte Wut, aus ihm herausplatzen. Einmal, zweimal, bis sie aufhörte zu schreien. Und still wurde. Ganz still. Die Augen geschlossen, nur noch ein Wimmern drang aus ihrer Kehle. Und das war der Moment, in dem sie sich aus ihrer Starre löste. Sie rannte zu ihrer Mutter, die bewusstlos auf dem Boden lag, flach atmend. Sie drängte sich zwischen ihre Eltern, bekam einen harten Hieb, aber sie merkte gar nicht, wie das Blut ihre Wange hinunterfloß. Sie fühlte sich auf einmal stärker als je zuvor. Es müsste anders rum sein. Ihre Mutter die Bärenmutter und sie das hilflose Kind. Aber jetzt musste sie ihre Mutter beschützen. Mit aller Kraft stieß sie ihren angetrunken Vater nach hinten. Heraus aus all der Wut, aus all dem Schmerz, aus all der Verzweiflung, die ihr Superkräfte verliehen. Immer noch war alles still für sie, sie rüttelte an den Armen ihrer Mutter, versuchte sie zu wecken. „Mama! Mama!". Doch es dauerte ewig bis die ersten Sanitäter in das Haus stürmten. Die Blaulichter verschwammen durch die Tränen in ihren Augen. Für sie fühlte es sich an als würde die Zeit zwischen ihren Händen wie eine zähe Masse zerfließen. Es war nichts greifbares mehr. Sie wusste nicht mehr wie viel Zeit vergangen war. Sie sah nur das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Mutter. Sie verstand auch nicht, wieso die Sanitäter sie nicht zu ihrer Mutter lassen wollten. Sie wollte doch nur ihre Hand halten, sie ins Krankenhaus begleiten. Ihr sagen, dass alles wieder gut wird. Aber all ihre verzweifelten Schreie, ihr Ankämpfen gegen die Ersthelfer war aussichtslos. Sie wollte sich von ihren Griffen los reißen. Sie wollte nicht nur zusehen, wie ihre Mutter in den Krankenwagen geschoben wurde. Sie wollte nicht, dass sie ihre eigene Wunde behandelten, für sie war es nur ein kleiner Kratzer auf ihrer sonst so makellosen Wange. Ihr ging es gut. Sie wollte nicht an der Straße sitzen und sich von fremden Leuten begutachten lassen. Sie wollte zu ihrer Mutter. Sie wollte doch nur bei ihr sein, ihr Kraft schenken, sagen, dass alles gut wird. All die Leute in roten Anzügen, die auf sie einredeten, die Polizeiwagen um sie drumherum, verschwammen zu einem einzigem Brei.
All die Fragen in ihrem Kopf sollten endlich aufhören. „Was passiert jetzt? Wieso kann Papa nicht die Hände von diesem Scheiß lassen? Was ist vorgefallen? Werden sie mich jetzt mit Papa alleine lassen?" Ein Gedankenstrudel, der ihr Schwindel bereitete.
Sie wollte doch nur die Hand ihrer Mutter halten, ihr über den Kopf streichen, ihr sagen, dass alles gut wird und sie nur für sie stark ist.  Sie sind ein Team, sie werden zusammen halten und dann würde alles gut gehen.
Aber als auch der letzte Sanitäter in den Wagen stieg, welcher mit ihrer Mutter davon fuhr und auch das letzte Polizeiauto verschwand, war es leer um sie herum. In ihr war alles leer und sie kehrte in ihre Welt zurück. In die Welt, in der sie vorgab perfekt zu sein.
Als wäre nie etwas gewesen.
Ein normaler Samstag Abend. Eine normale Partynacht. Ein normales Lächeln. Und morgen würde die Sonne wieder in ihr Zimmer scheinen, sie würde sich an keinen Kummer mehr erinnern.
Sie würde wie jeden Tag aufstehen, vor den Spiegel treten, ihre Augenringe und ihr bekümmertes Gesicht wegschminken, als würde sie eine Maske auflegen. Sie wird sich wie jeden Tag von oben bis unten mustern, ihren Schmuck anlegen, sich anlächeln und ihre Gesichtszüge einstudieren. Auch wenn sie im tiefstem Inneren weiß... Hinter jedem perfektem weißem Lächeln, steckt ein dunkles Geheimnis.

Das ist das Leben von Brooklyn Young.

Und dann gab es sie. Sie war anders gewesen. Das war sie schon immer. Sie hörte Dinge. Andere Dinge als andere. Deutlicher, klarer. Sie sah Dinge. Dinge, die andere nicht wahrnahmen. Und die ihr niemand glaubte. Sie fühlte anders. Und vorallem, dachte sie anders. In ihrem Kopf befand sich ein ganzes Universum. Jeder Gedanke ein Stern, der um ihre Sonne wirbelte. Kein Gedanke stand jemals still. Manchmal war es zu viel für sie. Dann prallte ein Stern gegen einen Anderen. Und es dauerte lange, bis sie die Scherben wieder zusammen basteln konnte. Das war Überforderung für sie. Zu viele Gedanken, die sich zu schnell drehten, wie in einem Karussell. Sie konnte ihr Gedankenkarussell nicht anhalten, egal wie sehr sie es versuchte. Es war einfach zu komplex. Jeder Psychologe hätte seinen Spaß sie zu analysieren. Denn sie war so anders. So anders als alle anderen. Und das war auch der Grund, wieso andere sie mieden. Auch wenn sie das nicht wollte. Sie hatte nicht mit Absicht diese Ideen, diese Gedanken, diese Bilder und Träume im Kopf. Sie waren einfach da. Sie nahm diese Erde anders war. Anders als wir sie wahrnehmen würden.
Und das machte sie besonders. Nur diese Besonderheit zu erkennen, gelang nicht jedem. Dann nannte man sie: „merkwürdig." Oder „Freak".
Nicht liebenswert, aufmerksam oder einen Sonnenschein. Denn dann hätte man genauer hinsehen müssen. Aber wer tut das schon noch?
Ihr Leben war voller Träume, voller Gefühle und Emotionen. Ihr Leben war ein Detail am nächsten. Und in Allem fand sie etwas einzigartig Schönes. Sie sah die Dinge und sie liebte sie. Sie sah hin. Mehr als einmal.
Sie war unauffällig, bei ihr sah keiner zweimal hin und deswegen schwieg sie und erfreute sich an den kleinen Dingen ganz allein. Weil sie es wollte. Weil sie es sah und sie machte sich nicht wirklich etwas daraus, was andere über sie dachten. Zumindest bis jetzt nicht.
Aber manchmal, ja manchmal da gab es auch Tage, an denen sie Gewalt erfuhr. Nicht unbedingt physische, aber psychische, die sie immer kleiner werden ließ.
Trotzdem ließ sie sich nicht unterkriegen. Denn sie glaubt an das Gute im Menschen. Daran, dass jeder einfach nur Schmerzen fühlt und diese irgendwo kompensieren muss. Dass jeder mal einen schlechten Tag oder eine schlechte Woche hat oder nicht weiß, wer er ist und wer er sein möchte.
Und wenn sie dieser jemand war, dieser Kompensator, dann lächelte sie. Dann lächelte sie, bis sie sich auch glücklich fühlte, denn irgendwann, das wusste sie, wird alles gut werden.

Das ist das Leben von Violet Reese.

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