Erster Eindruck

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Lange dauert der Flug eh nicht und währenddessen klärt Nici die beiden noch über die ein oder andere Eigenheit auf. So zum Beispiel dass ihr kleiner Bruder sehr, SEHR zurückhaltend ist und sich das erst einmal alles ansieht, bevor er entscheidet ob er jemanden mag oder nicht. Ihr Vater stellt gern die Fragen, während ihre Mutter zwar ein wenig mehr beobachtet, sich aber sehr schnell ein Bild macht. Ob dies nun gut ist oder nicht, das kommt auf den ersten und sogar auch auf den zweiten oder dritten Eindruck drauf an. Nicht immer ist es bei den beiden so, dass sie einen sehen und ihn sofort kategorisieren können. Haustiere sind gern gestellte Fragen, genau wie es die Arbeit ist und Nici kann froh sein dass sie Englisch eher weniger beherrschen, da sonst einige Dinge aus ihrer Kindheit erzählt worden wären die eventuell peinlich werden könnten. Tabuthemen sind aber Dinge wie die Ex-Verlobte ihres großen Bruders, ihr Onkel mütterlicherseits oder der Ex-Mann ihrer Mutter. Schwierig, ganz schwierig. Beide werden es sich soweit es geht irgendwie beachten damit es keine unangenehme Stimmung gibt. Alucard sitzt in seinem Sitz, hat sich nach hinten gelehnt und die Arme verschränkt. Es sind normale Menschen. Es sind normale Menschen, wieso ist er nervös? Hätte er etwas mitnehmen sollen? Wein? Pralinen? Ugh, wieso macht er sich deswegen Sorgen? Erster Eindruck... der sollte nicht schief gehen. Aber wenn er es tut, was dann? „Alucard?" Nici hat die Sorgen gespürt und runzelt die Stirn. Der Urvampir sieht zu ihr und weiß, dass er nicht lügen kann. „Hätten wir was mitnehmen sollen? Als... was weiß ich, kleine Aufmerksamkeit?" Stille, bevor sie leise kichert. „Meine Eltern stehen nicht so wirklich auf solche Geschenke. Sie schätzen gute Gesellschaft um einiges mehr als materielle Dinge und finden eine Unterhaltung bei der jeder sich beteiligt besser als irgendetwas anderes." Ein klein wenig ist er dann schon erleichtert. Aber zumindest weiß er jetzt, woher sie ihre Abneigung von Geschenken oder Wünschen hat. Wenn ihr ihre Eltern vorgelebt haben dass materielle Dinge nicht der ausschlaggebende Punkt ist, dann hat sie das natürlich übernommen. Alexander muss zugeben, dass er sich jetzt nicht wirklich Gedanken darum gemacht hat und ebenfalls erleichtert ist, dass er nicht etwas eventuell Essentielles vergessen hat. Hätte wirklich nach hinten losgehen können, wenn man es so bedenkt. Der Besuch bei den Eltern... wie lange hat er das bitte schon nicht mehr durchgezogen? Zugegebenermaßen macht er sich bei denen von Nicole aber relativ wenig sorgen und auch sonst ist er ruhiger als der Urvampir, der sich offensichtlich immer noch Gedanken wegen allem macht. Einerseits wirklich rücksichtsvoll, dass er es nicht versauen will! Andererseits immer wieder komisch mit anzusehen wie man sich wegen so einer Kleinigkeit an sich so viel Sorgen machen kann. Faszinierend, wie viele verschiedene Seiten der Kerl besitzt die man auch erst nach und nach herausfindet, da er sich nur extrem langsam öffnet und zulässt, dass man seine schwachen Seiten sieht. Hat Alexander ihm zugetraut dass er so sein könnte? Nein. Sollte er sich daran gewöhnen dass dieser Blutsauger auch eine schon fast menschliche Seite hat? Eventuell endlich mal, ja.

Mit einem Taxi fahren sie bis vor das Haus und die beiden Männer sehen zum ersten Mal das Reihenhaus, in welchem Nicole aufgewachsen ist. Alucard riecht den Wald, der sich hier drumherum befindet und sieht die hohen Bäume, die theoretisch als Gefahr gelten. Sollten sie umfallen und auf die Häuser krachen, das wird nicht gerade einfach. Die junge Frau sieht erst zu Alexander, dann zu Alucard. „Wollt ihr noch länger starren, oder sollen wir rein?" Stumm folgen die beiden und während sie die Haustüre aufsperrt, hört man in der Ferne ein Hundegebell und das Lachen von Kindern. Stimmt, hier haben sie einen Spielplatz gesehen, als sie in die Straße eingebogen sind. Von unten aus dem Keller ist schon ein lautes Fluchen zu hören, gefolgt von einem lauten: „HEY! RUHIG!" aus dem Wohnzimmer. Seufzend hängt Nici den Schlüssel an das Schlüsselboard und sieht zu den beiden Männern hinter. „Mein kleiner Bruder ist mal wieder am Zocken und meine Ma ist kein Fan davon wenn man dann so extrem laut ist." Der Pater schließt hinter sich die Haustüre und fühlt sich ein wenig... beengt. Alles ist kleiner und enger, aber daran muss er sich eben gewöhnen. Jeder zieht sich die Schuhe aus, Alucard verstaut seinen Hut und die Brille und schon geht die Wohnzimmertür auf. „Nici, Schatz!" Ihre Mutter kommt zu ihr gehumpelt und nimmt sie sofort in den Arm. Alucard mustert sie aufmerksam. Die Haare sind sehr kurz gehalten und in dem dunklen Braun sind schon ziemlich viele graue Strähnen zu sehen. Sie ist ein wenig fester gebaut, aber man kann sie nicht als dick bezeichnen. Die Brille rückt sie sich zurecht und sieht, nachdem sie Nicole wieder losgelassen hat, hinter sie. Sie ist überrascht, was ihre Tochter da angeschleppt hat und nickt. Mit ihrem gebrochenem Englisch begrüßt sie die beiden erst einmal. „Hallo! Ich bin Petra, Nicoles Mutter." Alucard nimmt ihre Hand und lächelt leicht. „Erfreut. Alucard mein Name." Ihre Mutter nickt und als nächstes kommt Anderson, der sein berühmtes Unschuldslamm-Lächeln drauf hat. „Ich bin Alexander! Freut mich, Sie kennen zu lernen!" Petra leitet sie in das Wohnzimmer, in welchem schon viel mehr Platz herrscht und Anderson nur kurz bei den Lampen aufpassen muss. Nicis Vater steht ebenfalls auf. „Thomas der Name. Ihr beide haltet es also mit unserer Tochter aus?" Nicole legt sich nur eine Hand auf das Gesicht und seufzt. Sie haben nicht einmal die Vorstellung komplett hinter sich gebracht und ihr Vater fängt schon mit den dummen Kommentaren an. „Soll ich Benny holen? Ich- Ich hol einfach Benny.", murmelt sie, geht an dem Geistlichen vorbei in den Gang und runter in den Keller. Dort öffnet sie die Tür zum größten der vier Kellerabteile und sieht ihren kleinen Bruder an. „Jo, Bruderherz. Bin wieder im Lande und hab n paar mitgebracht." Der blondhaarige sieht kurz von dem Fernseher weg und runzelt die Stirn. „Und du bist? Meine Fresse... dass du dich auch mal wieder blicken lässt, was 'n Wunder." Aber er nickt und schaltet die Konsole aus, bevor er mit ihr wieder nach oben geht.

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