K A P I T E L 1

26.1K 770 35
                                    

E l i z a b e t h

„Ellie ...", flüstert jemand und streicht mir durchs Haar. Leer sehe ich in die grünen Augen von Alex. Ohne ein Wort hebt er die Decke und legt sich zu mir. „Ich bin hier", murmelt er und küsst mich auf den Kopf. „Ich bin hier." Plötzlich steigen die Tränen zu tausenden auf, obwohl ich so qualvoll versucht habe sie zurückzuhalten. An meiner Stirn spüre ich, wie ihm selber einzelne Tränen über die Wangen laufen. Bereits zwei Wochen sind vergangen, seitdem der Beamte vor unserer Haustür gestanden hat. Zwei Wochen, in denen ich nicht mehr das Haus verlassen - oder auch nur irgendetwas gesagt habe.
„Ist alles-", will meine Schwester beginnen, als sie ins Zimmer kommt, bricht jedoch ab, als sie uns so liegen sieht. Leise kommt sie auf uns zu und legt sich auf die freie Seite. Wir halten uns gegenseitig und versuchen die Trauer zuzulassen. Es ist schwer, so unendlich schwer. Morgen werden sie beerdigt und keiner von uns ist bereit dazu. Keiner. Wir wollen endlich aufwachen. Aufwachen aus diesem Traum. „Wird er kommen?", flüstere ich hoffnungsvoll. „Nein", sagt mein Bruder schlicht und verkrampft sich leicht. „Weiß er es überhaupt?", schniefend sehe ich zu ihm. „Man sagte mir, er wäre von seinen Vorgesetzten informiert worden, allerdings ist es so, dass er sich zurzeit auf einer Mission irgendwo im Sudan befindet. Wo genau weiß ich nicht", murmelt Clair traurig, da sie ihn auch sehr vermisst, aber nicht ansatzweise so sehr wie ich. „Also kommt er morgen nicht?", meine Stimme ist kaum hörbar. „Nein, Ellie. Er wird nicht kommen." Ich habe es so sehr gehofft. Denn ich sehne mich so sehr nach seinen schützenden Armen, die sich immer um mich geschlungen haben, wenn ich traurig gewesen bin. Wut mischt sich zu meiner Sehnsucht, die langsam überhandnimmt. Zwei Jahre ist er schon nicht mehr hier gewesen und jetzt, wo unsere Eltern sterben, hält er es nicht für nötig, endlich wieder nach Hause zu kommen, um für uns da zu sein. „Sei nicht sauer auf ihn, Ellie", versucht mich meine Schwester zu beruhigen, als sie meinen veränderten Gesichtsausdruck sieht. „Er wird kommen, wenn er kann." „Und wann soll das sein?! Ich... wir brauchen ihn jetzt am allermeisten und nicht in einem Jahr." Wütend stehe ich auf und laufe ins Bad.
Es ist für uns alle nicht leicht gewesen, als Edward nach seinem College Abschluss die Entscheidung gefällt hat, in die Army zu gehen, besonders für mich. Wir haben schon immer ein gutes Verhältnis gehabt. Umso mehr hat es mich getroffen, als er gegangen ist. Traurig setze ich mich auf den Toilettendeckel und fange an zu weinen. Zum einen wegen meiner Eltern, zum andern um ihn, da er nicht hier ist, wo ich ihn doch am meisten brauche.

~

„Miss Jones!", brüllt jemand durch die Klasse. Erschrocken zucke ich auf und sehe in das wütende Gesicht meines Chemielehrers. „Ich war lange genug nachsichtig mit Ihnen. Der Verlust Ihrer Eltern tut mir aufrichtig leid, aber den Freifahrtschein, einfach in meiner Klasse schlafen zu dürfen, haben Sie dadurch nicht bekommen. Sie hatten zwei Monate Zeit zum Trauern, nun konzentrieren Sie sich endlich wieder auf die Schule. Ihre Eltern hätten sicherlich gewollt, dass Sie einen guten Schulabschluss machen." Geschockt sehe ich ihm entgegen. „Was fällt Ihnen ein, zu sagen, was meine Eltern gewollt hätten?! Sie minderbemittelter, alter, langweiliger, hässlicher Mann!", brülle ich wütend. Entsetzt sehe ich ihn an, als mir klar wird, was gerade aus meinem Mund gekommen ist. „Zum Direktor, sofort!", knurrt er und deutet zur Tür. Shit. Murrend schnappe ich mir meine Tasche und verlasse fluchtartig den Klassenraum. So ein ... Argh!
Wütend laufe ich durch den Schulflur und brumme vor mich hin. Aber mal ehrlich, was fällt diesem Penner ein? Seufzend komme ich an der Tür des Direktors an, vor der ich einige Minuten unsicher warte. Ich musste noch nie zum Schulleiter geschickt werden. So ein Mist! Zaghaft klopfe ich an und warte auf das „Herein". Eingeschüchtert öffne ich die Tür, sofort lächelt mich unsere Sekretärin freundlich an. „Sie können zu ihm", sagt sie und deutet auf die Tür rechts von mir. Zitternd drücke ich die Klinke der großen Holztür runter, in der ein milchiges Glas eingebaut ist, wodurch man die Menschen dahinter nur erahnen kann. Ich schaue auf und sehe in das alte, aber weise Gesicht von Mr. Owens. Verwirrt sieht er zu mir auf. „Miss Jones, was führt sie hierher?" Aufmerksam mustert er mich und legt sogar seinen Stift nieder. Genau in dem Moment bekommt er die E-Mail meines Chemielehrers, die er sich aufmerksam durchliest, als er meinen Namen im Betreff gelesen hat. Langsam setze ich mich auf den Stuhl gegenüber von ihm. „Ich hätte nie gedacht, dass sie der Typ dafür sind", murmelt er und streicht sich durch seinen weißen Bart. „Es tut mir leid, Mr. Owens", entschuldigend sehe ich zu ihm. „Nun, wenn es nur bei dem Schlafen geblieben wäre, hätte ich dieses Mal noch darüber hinweg gesehen, doch wissen Sie wahrscheinlich selber, was diese Beleidigungen mit sich ziehen werden." Betrübt nicke ich und sehe aus dem Fenster. „Mir kamen in letzter Zeit öfters Beschwerden über Sie zu Ohren. Sie waren doch immer so ein lebensfroher und netter Mensch", kopfschüttelnd gibt er etwas in seinen Computer ein. „Ich werde mal bei Ihnen zu Hause anrufen. Ein Erziehungsberechtigter muss Sie abholen, denn leider muss ich Sie heute von der Schule suspendieren. Bitte denken Sie darüber nach und finden wieder zu Ihrem alten Ich zurück. Sind Ihre Eltern zu Hause?", fragt er mich.
„Sie sind tot", gebe ich monoton von mir. Erkenntnis breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er scheint vergessen zu haben, dass ich das Mädchen bin, dessen Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Unangenehm räuspert er sich und rückt seinen Schlips zurecht. „Nun, ist ihr Bruder zu Hause?" Alex müsste eigentlich im College sein, könnte aber auch zu Hause rumgammeln. „Kann sein", gebe ich schulterzuckend von mir. „Hm... ich werde es mal probieren." Geduldig warte ich und sehe auf meine Hände im Schoß, die ich nervös knete. Zu meinem Erstaunen nimmt jemand ab. „Ah... Mr. Jonas. Ja, hier ist die Hawkins School. Ja. Ja genau...", redet er mit meinem Bruder. Also ist er doch zu Hause. „Elizabeth Jonas sitzt hier in meinem Büro. Sie müssten sie hier abholen kommen, alles andere erzähle ich Ihnen dann hier. Ja... In Ordnung", und damit legt er auf. „Ihr Bruder wird in den nächsten Minuten hier eintreffen", erklärt er mir und tippt irgendwas in seinem Computer ein. Müde schließe ich die Augen. Es ist schon so lange her, dass ich wirklich gut geschlafen habe. Mir fehlen meine Eltern so schrecklich und in der Nacht träume ich von ihrem Unfall. Schweißgebadet wache ich auf und zittere am ganzen Leib. Es ist, als wäre ich dabei gewesen und könnte ihre Angst spüren, ihre Sorgen, ihre Liebe, als ihre letzten Gedanken uns galten. Alex und Clair geht es mittlerweile schon besser, ich bin die einzige, die noch immer wie ein Gespenst durch die Gegend wandert. Natürlich trauern die beiden noch immer, doch sie haben verstanden, dass das Leben weiter geht. Und auch, wenn ich meinen Chemielehrer hasse, weiß ich, dass er Recht hatte. Meine Eltern hätten besseres für mich gewollt. Hoffentlich ist Alex nicht allzu sauer auf mich, denn das ist das letzte, was ich damit erreichen wollte. Seit dem Unfall hat er sich vor mir zurückgezogen. Jedenfalls ist es zwischen uns nicht mehr so wie früher. Leidend blicke ich auf die Uhr über dem Schreibtisch. Plötzlich vernehme ich eine tiefe und dunkle Stimme, die mit der Sekretärin redet. Durch das milchige Glas sehe ich einen großen Mann, der gerade und angespannt hinter der Tür steht. Eine böse Vorahnung macht sich in mir breit und doch kann ich nichts dagegen tun, dass sich eine Gänsehaut auf meiner Haut ausbreitet. Schemenhaft kann ich erkennen, wie der Mann sich zur Tür des Direktors dreht, anklopft und diese öffnet, sobald er das „Herein" meines Schulleiters vernimmt. „Ah, Mr. Jonas."
Geschockt sehe ich in das Gesicht von Edward.

My Hero. Where stories live. Discover now