K A P I T E L 6

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Song Empfehlung:
Pierre von Ryn Weaver

E l i z a b e t h

„Dein Bruder ist echt einschüchternd", murmelt Tony, während wir zu dritt auf der Couch gammeln und ich mich in seine Arme kuschle. „Ja, aber wenn man ihn näher kennt, kann er sehr lieb sein", versichere ich ihm. „Ich wage zu bezweifeln, dass er jemals lieb zu ihm sein wird", lacht Maddy. „Hey!", gespielt böse werfe ich ein Kissen nach ihr. „Verunsichere ihn doch nicht auch noch."
Wie in Trance schaut Tony schon die ganze Zeit auf den Couchtisch. „Dein Bruder wird mich ganz sicher irgendwann umbringen."
„Ach Quatsch!", beschwichtigend streiche ich über sein Bein.
„Mal ehrlich, Ellie, hast du denn nicht sein Gesicht gesehen. Er hätte ihn am liebsten jetzt schon das Genick gebrochen", kichert Maddy. „Das ist echt nicht hilfreich!", brumme ich und sehe vernichtend zu ihr. „Ich sag's wie es is'." Kopfschüttelnd rutsche ich tiefer in Tony's Arme.
Es ist für mich ein Schock gewesen, als ich erfahren habe, dass er schon immer auf mich gestanden hat, aber nie etwas gesagt hat. Tony ist nicht besonders groß, vielleicht einen Kopf größer als ich, doch ich mag seine Haare, die immer wild gelockt umherstehen. Auf seiner Nase trägt er meistens seine schwarze Brille und wie jeder Teenager hat auch er, mit ein paar Pickeln zu kämpfen, jedoch stört mich das nicht, denn er ist ein wirklich lieber und schüchterner Mensch.
„Wollen wir vielleicht hoch ge-", fange ich an, doch er steht abrupt auf, sodass ich unangenehm auf die Couch plumpse. „Ich habe ganz vergessen, dass ich Olli noch was bringen muss", sagt er gespielt entsetzt. Olli ist sein bester Freund. „Wir sehen uns ja dann in der Schule." Schnell gibt er mir einen kurzen Kuss auf die Wange und entsetzt sehe ich ihm hinterher, wie er zur Haustür flüchtet. „Um Gottes Willen, dein Bruder hat ihm ja echt Angst gemacht", lacht Maddy lauthals. Genervt sehe ich zu ihr und lege mich erschöpft auf den Rücken.
Eine Zeit lang ist es still, bis sie sich neben mich legt. „Wie geht's dir eigentlich damit?" Fragend sehe ich zu ihr. „Ich weiß, dass du und dein Bruder immer eine enge Verbindung hattet und, dass du, als er gegangen ist, sehr darunter gelitten hast. Besonders seitdem... besonders seit Dezember", erzählt sie. Nachdenklich sehe ich an die Decke. „Er hat sich verändert...", beginne ich. „Ohhh ja! Gott, dein Bruder ist noch heißer als vor zwei Jahren und diese
Narbe...", schwärmt sie. Angewidert sehe ich zu ihr. „Das hat Stella heute schon gesagt. Du hättest sie hören müssen...", seufze ich. „Verständlich, dein Bruder ist ein echter Mann geworden...", genervt sehe ich sie an. „Ich hör' ja schon auf", beschwichtigend hebt sie die Arme. „Jedenfalls ist es... es ist irgendwie anders. Er ist irgendwie anders." „Er hat bestimmt schreckliches gesehen, so, wie er aussieht", murmelt sie. Zustimmend nicke ich schwach. „Letzte... letzte Nacht hat er geträumt und ich wollte ihn wecken. Er war so gefangen, dass er mich nicht mehr erkannt hat. Maddy, er hat mir eine Waffe an den Kopf gehalten", wispere ich. Entsetzt sieht sie mich an. „Er ist schrecklich traumatisiert."
„Vielleicht sollte er sich Hilfe suchen", schlägt sie vor. „Wir reden hier über Ed... er war nie der Typ, der um Hilfe gebeten hat, ganz zu schweigen davon, dass er niemals Hilfe annehmen würde." „Ja, aber er muss das Geschehene verarbeiten." „Ja, ich weiß. Du hast Recht."

Später schauen wir uns noch Filme an und irgendwann, kurz vor dem Abendessen, fährt sie mich nach Hause. „Vielen Dank, Maddy. War schön", verabschiede ich mich von ihr. „Ja! Bis Montag."
Vorsichtig gehe ich zum Haus, da es wieder extrem glatt geworden ist. Gerade, als ich die Tür aufschließen will, wird sie bereits geöffnet. Überrascht blicke ich in das Gesicht von Amber. „Hey Süße!", begrüßt sie mich. Amber ist Alex Freundin und das schon seit zwei Jahren. Die beiden sind wirklich Zucker zusammen und so wie es scheint, ist sie bis eben noch hier gewesen. „Hey!", begrüße ich sie und schlinge meine Arme um die große Frau. „Bleibst du nicht zum Essen?", fragend sehe ich zu ihr auf. Neben ihrem Studium modelt sie, denn ihre dunkle, reine Haut und ihr buschiger Afro lassen sie wie eine Göttin wirken. Zusätzlich hat sie ein Herz aus Gold und sie war die letzten Monate für uns da. Ich hoffe so sehr, dass es sich mein Bruder nie mit ihr verscherzt, denn diese Schönheit muss unbedingt meine Schwägerin werden. „Nein, mein Dad hat heute die ganze Familie eingeladen. Ich wollte nur einmal den berühmt berüchtigten Edward Jonas kennenlernen", erzählt sie mir. „Und?", kichere ich. „Naja... Wow", sagt sie einfach nur grinsend und nach heute verstehe ich, was sie meint und nicke lachend.
„Mach's gut, Süße", verabschiedet sie sich noch und zwinkert mir zu. Gott, ich liebe diese Frau. Ich winke ihr noch kurz, ehe ich das warme Haus betrete, in dem ein himmlischer Duft aus der Küche dringt. Verwirrt runzle ich die Stirn, denn auch, wenn Alex meistens für uns kocht, hat es hier noch nie so lecker gerochen. Clair kann nicht kochen, sie hat es noch nie gekonnt. Einmal hat sie es versucht und wir wären beinahe gestorben. Sie ist sehr eingeschnappt gewesen, aber hat es danach auch nie wieder probiert. Fix ziehe ich mir meinen Mantel und meine Boots aus. Neugierig linse ich in die Küche und sehe einen muskulösen Mann, in einem dünnen T-Shirt vor dem Herd stehen.
„Du kochst?", frage ich ihn belustigt und hüpfe neben ihn auf die Arbeitsplatte. Schmunzelnd sieht er zu mir. „Ja, schon früher, falls du dich erinnerst." Nachdenklich lege ich die Stirn in Falten. „Ja! Stimmt! Du hast immer die weltbeste Pasta gemacht." Strahlend sehe ich zu ihm und beobachte, wie er verschiedene Gewürze in die Soße gibt.
„Wie war es denn bei deinem... Freund", leichte Abneigung liegt in seiner Stimme, die er versucht, durch ein Räuspern zu überdecken. „Du hast ihn so eingeschüchtert, dass er danach einfach gegangen ist", grummle ich. „Wirklich?", versteckt lächelnd sieht er zu mir. „Eddie, so geht das nicht. Du kannst ihn doch nicht so einschüchtern. Im Endeffekt will er mich gar nicht mehr berühren", tadelnd sehe ich zu ihm. „Das war der Plan...", murmelt er. Beleidigt schlage ich ihm auf die Schulter, als er plötzlich zusammenzuckt. „'Schuldige...", flüstere ich. Lieb sieht er zu mir und lächelt. „Schon okay", seufzt er und streicht mit dem Daumen über meine Wange, die durch die Wärme im Raum glüht. Irgendwie erscheint es mir, als würde er genau in dem Moment in meinen Augen ertrinken. „Du bist ja da...", kommt es von der Tür und Ed lässt ruckartig die Hand verschwinden. Kritisch sieht Alex zu seinem Bruder, ehe sich eine neutrale Maske über sein Gesicht legt. „Ja, übrigens bin ich noch Amber begegnet." Augenbrauenwackelnd sehe ich zu ihm. „Lass das!", grummelt er, es legt sich jedoch eine verräterische Röte über seine Wangen. Alex ist wirklich gutaussehend und schlau. Mit seinen blonden Löckchen und den giftgrünen Augen hat er schon so einige Frauenherzen gebrochen. Doch Amber ist selbst für ihn eine andere Liga und trotzdem lieben die beiden sich noch immer, so sehr wie am ersten Tag. Noch heute errötet er, wenn ich sie erwähne, was wirklich süß ist. „Und, wie findest du Amber?", frage ich Ed. „Nett", sagt er schlicht. „Nett!? Sie ist nicht einfach nur nett", das letzte Wort äffe ich ihm desinteressiert nach. „Sie ist eine gute Partie", gibt er schulterzuckend zu. „Gott, Ed! Wir leben doch nicht mehr im 17. Jahrhundert!", stöhne ich genervt und schüttle mit dem Kopf. „Eine gute Partie, eben Ellie", schmunzelt Alex. Zwischen dem leisen Blubbern der Soße und dem Geräusch des Ofens vernehme ich mein Lieblingslied im Radio.
„Alex! Mach das Radio lauter!", befehle ich ihm und schmunzelnd sieht er zu mir, während er lauter dreht. Schnell springe ich von der Arbeitsplatte, ehe ich mich hüpfend zum Lied im Kreis drehe. Ich lass die Musik auf mich einwirken, lass sie meine Bewegungen, Gefühle und Gedanken bestimmen. Vergesse, dass ich mich gerade in der Küche befinde und blende aus, dass mich meine beiden Brüder mustern. Der eine belustig und mit einer Hand vor dem Mund, hinter der er sein Lachen versteckt. Der andere so intensiv, dass sich unweigerlich eine angenehme Gänsehaut auf meiner Haut bildet. Sein Blick ist durchdringend, liebevoll, sehnsüchtig und ja, fast schon leidend. Kichernd gehe ich zu Alex und nehme seine Hände, um mit ihm zusammen zu tanzen. „Nein Ellie!", fleht er, kann jedoch das breite Grinsen nicht zurückhalten. Ich ignoriere seinen Einwand und drehe mich einmal im Kreis, während ich seine Hand halte. Solche Momente haben wir früher oft gehabt. Heute sind sie Geschenke, die nur in besonderen Momenten stattfinden und doch weiß ich, dass ich diese Erinnerung in genau dem Moment, während ich wie ein naives Blumenmädchen tanze, nie vergessen werde. Weder der Blick von Alex, der seit so langer Zeit wieder glücklich wirkt, noch der Blick von Edward, der mich vergessen lässt zu atmen.

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