K A P I T E L 2

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E l i z a b e t h

Ich habe mir so oft vorgestellt, wie es sein wird, wenn ich ihn nach so langer Zeit endlich wiedersehen würde.
Sein starker, großer und definitiv muskulöser Körper ist von seiner Army Uniform umhüllt. Sein Gesicht wirkt hart und doch strahlen seine Augen eine unfassbare Wärme aus, als er mich sieht. Er wirkt älter, reifer, verändert. Seine Augen, die ich so sehr vermisst habe, mustern mich eindringlich. Das eine so braun wie süße, flüssige Schokolade, das andere so hellblau, dass man in ihm ertrinken könnte. Schon immer haben ihn alle für seine außerordentlich einzigartigen Augen bewundert. Selbst ich habe sie immer auf eine einnehmende Art faszinierend gefunden und sie so oft studiert, nur, um aus ihnen und dem Mann schlau zu werden, dem sie gehören. Seine schwarzen, wilden Haare, mit denen ich als Kind so gerne gespielt habe, werden von einem Barett verdeckt. Ein leichter Dreitagebart zeichnet sich über seiner Haut ab. Erschrocken sehe ich zu seiner großen Narbe, die quer über sein Auge führt. Unweigerlich stelle ich mir die Frage, was er in den letzten Jahren für schreckliche Dinge erlebt haben muss. So oft habe ich ihm Briefe geschrieben. Mit der Naivität eines Kindes gehofft, er würde antworten oder auf mein Flehen hören und wieder nach Hause zurückkommen, wo ihn alle so sehnsüchtig vermisst haben.
„Freut mich, dass Sie kommen konnten", reißt mich mein Direktor aus den Gedanken. Viel zu sehr bin ich vom Anblick meines großen Bruders fasziniert gewesen, den ich so sehr vermisst habe. Nun wandert sein Blick auch zu dem Mann hinter dem Schreibtisch und reicht ihm respektvoll die Hand. „Setzen Sie sich doch", bietet Mr. Owens ihm an. „Vielen Dank, ich ziehe es vor zu stehen", lehnt er ab. Schaudernd sauge ich den Ton seiner Stimme in mir auf. Zwei Jahre. Es ist so lange her. Wie in Trance kann ich einfach nicht meine Augen von ihm abwenden, viel zu einehmend ist seine Präsenz in dem Raum, der von seinem markanten Geruch gefüllt wird. Früher roch er wild, männlich und süßlich. Jetzt jedoch ist es der männliche Duft, der dominiert und irgendwas ist anderes, vielleicht sein Rasierwasser oder auch der Geruch nach Krieg. Auch, wenn es albern klingt, denn der Krieg hat keinen Duft und doch ist da etwas Unbekanntes; etwas Einschüchterndes, das sich unter seinen vertrauten Eigengeruch gemischt hat, sodass sich unweigerlich eine Gänsehaut bildet und ich erschaudere, selbst, wenn ich nicht seine Schwester gewesen wäre und mich schon immer sicher bei ihm gefühlt hätte. Er wirkt auf mich so unfassbar reif, nicht mehr wie der Junge, der er einst gewesen ist. Der mich immer zum Lachen gebracht hat, wenn ich traurig gewesen bin oder mich getröstet hat, wenn ich wieder einmal über meine Füße gefallen bin und dabei meine Knie aufgeschürft habe. Ed ist schon immer meine Bezugsperson gewesen, der ich alles anvertraut und all meine Geheimnisse erzählt habe. Im Gegenzug habe ich ihn aufgemuntert, wenn er traurig gewesen ist, wenn seine Basketballmannschaft als Verlierer vom Platz gegangen sind oder wenn er Streit mit unserem Vater gehabt hat. Er ist schon immer meine Lieblingsperson gewesen. Umso mehr hat es mich verletzt, als sich der Gedanke in seinem Kopf manifestiert hat, dass er in den Krieg ziehen will. Mag sein, dass das egoistisch klingt, jedoch hatte ich Angst ihn zu verlieren. Wie grotesk es doch ist, dass meine Eltern erst sterben mussten, um meinen Bruder endlich wieder zu sehen. Nur am Rande bekomme ich mit, wie die beiden die ganze Zeit über mich und meine Taten reden. Erst, als mich der Direktor verabschiedet, erwache ich aus meiner Trance und folge dem großen, bedrohlichen Körper, der so einnehmend auf mich wirkt, dass ich beinahe vergesse zu atmen, als wir das Sekretariat verlassen und die Schulflure still entlanglaufen. Oft habe ich mir vorgestellt, wenn wir uns wiedersehen, dass er mich in die Arme nimmt und mir verspricht, nie wieder zu gehen, doch nun läuft er mindestens zwei Meter von mir entfernt und hat bis jetzt nicht einen einzigen Ton zu mir gesagt. Jedoch schaffe ich es selbst nicht, den Mund aufzumachen und ihm zu sagen, wie sehr ich ihn doch hasse, dass er gegangen ist und nicht einmal zu der herzherausreißenden Beerdigung unserer Eltern da gewesen ist. Ich schaffe es nicht, ihm zu sagen, wie unfassbar glücklich ich doch bin, dass er endlich wieder hier bei mir ist und, wie sehr ich ihn doch vermisst habe. Ich schaffe es einfach nicht ihn anzubrüllen und ihn zu beschimpfen, dass er mich nicht einmal in den Arm genommen hat, ist es doch das, was ich gerade am meisten brauche. Seine ganz einzigartige Wärme, die mich früher immer mit Geborgenheit überschwemmt hat. Mit der Liebe, die ich für ihn hege. Der ganz eigenen Liebe, die nur er beanspruchen darf, denn er ist der einzige, dem sie zusteht. Ich weiß nicht, ob ich genau in dem Moment weinen sollte vor Freude, Glück oder vor Trauer und Einsamkeit, die mich droht mitzureißen, wie jeden gottverdammten Morgen, in dem ich aufstehe und die Welt immer grauer und düsterer wirkt. Die Farben von früher sind verblasst, der Himmel nur noch grau und die Sonne nur noch kalt. Am liebsten würde ich nach seiner Hand greifen, die mir früher immer den Weg gewiesen hat, mich gehalten hat und mir Kraft gab. Diese große männliche Hand, die von vielen kleinen Adern geziert ist, genau die, die er jetzt so fest wie möglich ballt. Ist er wütend? Enttäuscht? Ich weiß nicht ob ich seine Enttäuschung ertragen könnte, ist mir doch seine Meinung immer die wichtigste gewesen. „Eddie...", flüstere ich nun doch, als wir die Schule verlassen haben und er in Richtung Parkplatz läuft. Sofort bleibt er stehen und verkrampft seinen ganzen Körper. „Bitte...", flehe ich ihn einsilbig an, in der Hoffnung er dreht sich zu mir um. Langsam, so unendlich langsam dreht er sich um und schaut niedergeschlagen auf den Boden. Angestrengt lege ich den Kopf in den Nacken, da er viel größer ist als ich, dass ist er schon immer gewesen und doch scheint es, als sei er in den letzten Jahren noch viel größer geworden. Was natürlich nicht stimmen kann, außerdem bin ich in den letzten zwei Jahren auch ein paar Zentimeter gewachsen. Und trotzdem bin ich noch immer der Zwerg in der Familie. Erwartend sehe ich in seine müden Augen, die überall hinsehen, nur nicht in mein Gesicht. Schluckend gehe ich die letzten Schritte auf ihn zu und lege meine Arme um seine Mitte. Weiß er denn nicht, wie sehr ich ihn vermisst habe? Dass er nicht selbst auf die Idee kam, dass eine Umarmung all die bösen Gedanken aus meinem Kopf vertreiben würden? Denn das war schon immer seine Superkraft. Eine Umarmung, die einem alles Schlechte der Welt vergessen lässt. Also vergrabe ich nun meinen Kopf tief in seiner Uniform und klammere mich wie ein Ertrinkender an ihm fest. Kralle mich in den harten Stoff unter meinen Fingern und presse mich an ihn, in der Hoffnung er versteht, dass ich ihn nie wieder gehen lassen kann. Und dann, nach gefühlten Stunden, legt er ganz langsam und sachte seine Arme um mich. Das wohlbekannte Gefühl von Geborgenheit, Liebe, Verbundenheit und Sehnsucht macht sich in mir breit. So lange habe ich auf dieses Gefühl, ihn bei mir zu wissen, nur bei mir, vermisst. Sanft streicht er durch meine braunen, lockigen Haare, die er früher immer als lustig befunden hat. Seine Finger gleiten in diese und pressen meinen Kopf fest an sich. Und zum ersten Mal am heutigen Tag spüre ich, wie seine Anspannung nachlässt und er seinen Kopf in meine Haare vergräbt, so wie früher. Endlich, nach so langer Zeit, schließt sich ein Loch, das in mir geklafft hat und wird von ihm gefüllt. Endlich.

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