Scheiße, Harry, wer bist du? Bill Gates?

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Irgendwann beschließen wir uns in mein Bett zu legen und starten wahllos irgendeinen Film. Mein Kopf pocht noch immer und eine hartnäckige Übelkeit hat sich in meinem Körper ausgebreitet. Dennoch genieße ich diesen Abend in vollen Zügen. Aber wer kann es mir verübeln? Wer würde sich beschweren, wenn man bei seinem unglaublich, heißen Freund in den Armen liegt und der einem unaufgefordert den Nacken krault und dabei noch unverschämt gut riecht, dass es einem die Sinne benebelt? - Richtig. Niemand.

Hin und wieder unterhalten wir uns, schauen dann wieder den Film und unterbrechen, für einen kurzen Kuss. Es ist ein entspannter Abend und wenn Harry jeden Abend hier ist, während ich krankgeschrieben bin, dann werde ich das locker aushalten.
Doch dann kommt mir plötzlich ein Gedanke. Wie aus dem Nichts flackert er in meinem Kopf auf und verlangt sofort Gehör.
"Sag mal", beginne ich deshalb und richte mich ein wenig auf, damit ich dem Lockenkopf besser in die Augen schauen kann. "Wann komme ich denn eigentlich mal in den Genuss, deine Wohnung zu sehen?". Überrascht sieht Harry zu mir herunter, kräuselt seine Stirn und bringt mich zum Schmunzeln. "Na ja, seit wir uns kennen sind wir immer nur hier bei mir und mich würde schon mal interessieren, wie du wohnst."
Ich habe mich schon oft gefragt, wie Harry wohnt. Wie er eingerichtet ist, in welchem Stadtteil er wohnt. Eigentlich weiß ich was das angeht überhaupt nichts über ihn.
"Ähm", kommt es von ihm und unsicher kratzt er sich am Kinn, lässt mich dadurch skeptisch schauen. "Du hast doch eine Wohnung, oder?", frage ich lachend und bekomme ein schnelles Nicken, gepaart mit einem gleichzeitigen Kopfschütteln. 

Okay?

Er wird ja wohl nicht obdachlos sein. Dafür macht er einen viel zu gepflegten Eindruck und außerdem - nein. Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen.
"Also in einer Wohnung nicht direkt. Ich habe ein Haus", gesteht er und sieht verdammt unbehaglich dabei aus. 
"Ein Haus?". Er nickt. "Okay, wow...und...und warum treffen wir uns dann immer hier in meiner kleinen, abgeranzten Wohnung?". Mal ehrlich, es ist hier zwar ganz gemütlich, aber sonderlich viel Platz ist hier nicht.
"Uhm...ich mag es hier."
Jetzt werde ich doch wieder skeptisch. Er weicht mir aus, meidet meinen Blick, was ich verdammt seltsam finde.
"Sun?".
Mein Lockenkopf seufzt, weicht meinem Blick noch immer aus, doch als ich nach seinen Händen greife und diese zu meinem Mund führe, damit ich ihm einen Kuss auf das Handgelenk geben kann, richten sich seine Augen doch auf mich.
"Wenn ich ehrlich bin, möchte ich dich nicht abschrecken".
Abschrecken? Mich?
"Du kannst mich doch nicht abschrecken". Wie kommt er denn auf diese absurde Idee? Gut, wenn er überall Leichen liegen hätte, oder stinkende Kadaver, dann ja. Dann wäre ich mehr als abgeschreckt - aber das wird er ja wohl kaum haben. 

Wir schauen uns in die Augen, wobei mein Herzschlag sich wieder beschleunigt. Seine Augen haben eben eine berauschende Wirkung auf mich, dann kann ich einfach nichts daran ändern.
"Du möchtest wirklich zu mir?", vergewissert er sich und eifrig nicke ich. Ich brenne vor Neugier. Bei ihm kann ich mir einfach alles vorstellen. Seine Einrichtung könnte komplett steril sein, alles in Weiß oder aber den gemütlichen Landhausstil. Vielleicht ist er aber auch der industrielle Typ. Ich habe absolut keine Ahnung. 
Lächelnd richte ich mich noch ein wenig mehr auf, lege meine Hand auf seine Wange und hauche ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. "Sun, ich würde sehr gerne sehen, wie du wohnst".
Er zögert, weshalb ich einen sanften Kuss auf seine Lippen platziere. "Egal was es ist, es kann mich nicht abschrecken". Harry räuspert sich und nickt dann. "Okay, aber ich warne dich vor. Es ist etwas...anders." Nun bin ich noch neugieriger und am liebsten würde ich sofort zu ihm fahren und mir sein Haus anschauen. "Anders ist doch toll". Erneut nickt er, kuschelt sich zurück in die Kissen und zieht mich mit sich. Sein Arm schlingt sich um mich und seine Finger beginnen wieder damit meinen Nacken zu kraulen.
"Gut, dann werde ich dich morgen abholen und dann fahren wir zu mir."

~~**~~

Ungeduldig stehe ich vor meinem Wohnhaus und warte darauf, dass Harry mich am nächsten Tag abholt. Ich habe einen Rucksack dabei, denn wir haben zuvor besprochen, dass ich gleich die Nacht bei ihm verbringen werde.
Als sein Wagen um die Ecke biegt, platze ich fast vor Neugierde und es kann mir nicht schnell genug gehen. 
"Du stehst schon unten?", möchte er das Offensichtliche wissen, als er aus seinem Wagen aussteigt und seinen Kofferraum öffnet. "Dann musst du keinen Parkplatz suchen".

Wir verstauen meinen Rucksack in dem mehr als winzigen Kofferraum des Kleinwagens und steigen ein. Bevor wir allerdings losfahren, beugt sich mein Lockenkopf über die Mittelkonsole und sieht mir in die Augen. "Hi, erstmal".
Grinsend huscht mein Blick auf seine Lippen, ehe ich mich ebenfalls vorbeuge und ihn küsse. Ein Seufzen kommt aus seinem Mund, dann löst er unsere Lippen voneinander und fährt sich einmal durch die Haare.
Eine Geste, die ich nebenbei bemerkt, verdammt heiß finde.
"Jetzt geht es mir besser", grinst er und startet den Wagen. "Harter Tag?". Er nickt, fädelt den Wagen in den Verkehr ein und legt seine freie Hand auf meinen Oberschenkel. "Es war verdammt anstrengend." Kurz huscht sein Blick zu mir, ein Lächeln ziert seine Lippen. "Aber jetzt bist du bei mir und alles ist gut".

Wir fahren eine ganze Weile und am Ende landen wir in einem Stadtviertel, mit welchem ich nicht gerechnet hätte.
Hier wohnen die hochrangigen Leute dieser Stadt. Politiker, der Bürgermeister, die reichen Firmenbosse - und anscheinend mein Freund. 
Dicke Stadtvillen kreuzen mein Blickfeld, Vorgärten wie aus einer Garten- und Landschaftsbau-Zeitung und Autos, die man sich mit einem normalen Gehalt niemals leisten könnte.
"Ähm...also...ich verdiene ziemlich gut", murmelt mein Freund, als er meinen wahrlich überforderten Blick sieht. "Ziemlich gut?", will ich wissen und löse meinen Blick von dem meterhohen Zaun, der eine der Villen umzäunt.
"Wenn ich gewusst hätte, dass man als Kunsthändler so gut verdient, dann hätte ich noch mal über einen anderen Job nachgedacht."

Wir fahren in eine Seitenstraße hinein. Eine Allee aus vielen Kirschblütenbäumen. Influencer würden hier während der Blüte sicherlich Schlange stehen. Dann drückt Harry einen Knopf in seinem Auto und ein Tor, einige Meter von uns entfernt, öffnet sich. 
Ein weißes, schmiedeeisernes Tor öffnet eine weitere Duschfahrt und innerlich verdrehe ich meine Augen. Natürlich ist es kein normales Tor aus Holz - nein. Es muss ein pompöses, verschnörkeltes, etwas sein. Alles andere würde hier auch nicht hineinpassen.
Ein langer Kiesweg erscheint, links und rechts perfekt, geschnittene Rosenbüsche.
Und dann erscheint das Haus.
Das Haus.
Beinahe hätte ich gelacht.
Das hier ist kein Haus. Nein. Das hier ist ein verschissener Palast!

"Scheiße, Harry, wer bist du? Bill Gates?"

Der Kunsthändler Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt