Ach, aber ich?

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Es vergehen einige Stunden, in denen ich meine Ruhe habe. 
Beschäftigung habe ich hier genug. Die alten Akten scheinen auf einmal enorm wichtig und schnell finde ich mich in der Aufgabe wieder, sie zu sortieren und neu einzuordnen. 

Doch dann klopft es und ausgerechnet May betritt den Raum.
Ich ignoriere sie, doch das scheint sie nicht zu stören. 
"Liam wärmt das Essen auf", erklärt sie und verschränkt ihre Arme. "Er sagt, du sollst deinen Arsch nach oben bewegen, sonst würde er Niall sagen, dass du sein Essen verweigerst."

Arschloch.

Seufzend nicke ich, schließe die Schublade des Metallschrankes und wische meine staubigen Hände an meiner Hose ab. Mit Niall lege ich mich lieber nicht an.
Ich will an May vorbeigehen, doch erneut hält sie mich auf. Sie greift nach meinem Handgelenk und sieht mich an.
"Ich wusste es auch nicht, okay?"
Unweigerlich lache ich auf und schüttele meinen Kopf. 
"Wem willst du das denn erzählen?"

Also wirklich.
Denkst sie, ich bin dumm?

"Glaub, was du willst, du verdammter Dickschädel. Ich habe erst vor einigen Wochen davon erfahren. Durch Zufall."
"Wow, das ist natürlich was vollkommen anderes." Der Sarkasmus in meiner Stimme sitzt tief, doch das ist mir gerade sowas von egal. Sie kann ruhig merken, wie angepisst ich von dieser ganzen Situation bin.
Von der Situation und auch von mir selbst.
May will etwas sagen, doch ich stoppe sie, indem ich mein Handgelenk aus ihren Fingern ziehe.

"Lass einfach, ja?"

Doch hingegen meiner Erwartung lässt sie es nicht. Energisch schüttelt sie den Kopf, schiebt sich an mir vorbei und baut sich vor der Tür auf.

"Ich bin in Zayn Atelier gegangen. Sie wussten nicht, dass ich kommen würde und da ich einen Schlüssel habe, haben sie mich nicht bemerkt."

Sie hält inne, seufzt dann und sieht mir in die Augen.

"Zayn hatte gerade ein Bild fertiggestellt und Harry stand davor und begutachtete es. Er lobte ihn, sagte, dass niemand den Unterschied merken würde und dass es einfach ein Kinderspiel werden würde. Natürlich habe ich sofort eins und eins zusammengezählt. Mir war sofort klar, was die beiden da anstellten."
"Und du hast sie nicht gemeldet?", frage ich vorwurfsvoll und bekomme einen verärgerten Blick von meiner Kollegen.
"Du meinst, so wie du Harry festgenommen hast?"

Touché.

"Natürlich habe ich eine Sekunde daran gedacht, dich oder Liam zu kontaktieren. Ich meine, wir suchen diesen Kunstdieb eine halbe Ewigkeit und dann steht er einfach direkt vor mir. Schon die ganze Zeit. Ich muss dir ja nicht erklären, wie man sich in diesem Moment fühlt."

Nein. Das muss sie wirklich nicht.

"Aber dann bin ich die möglichen Szenarien durchgegangen und wenn ich ehrlich bin, hat mein Egoismus gewonnen."
Sie seufzt erneut, ihre Körperhaltung lockert sich.
"Ich liebe Zayn. Mehr, als du es dir vorstellen kannst. Und ich bin nicht bereit, ihn im Gefängnis zu besuchen."

Vermutlich war genau das einer der Gründe, warum ich Harry habe laufen lassen. 
Denke ich.

"Jedenfalls habe ich die beiden dann zur Rede gestellt und sie haben es mir erklärt. Ich teile ihre Begeisterung für dieses...nennen wir es mal Hobby, nicht. Und auch wenn du denkst, dass ich ihnen geholfen habe, versichere ich dir bei allem was mir lieb ist, dass ich ihnen niemals irgendwelche Informationen gegeben, oder sie gewarnt habe. Ich habe mich vollkommen rausgehalten."
Ein bitteres Lachen entkommt meinem Mund.
"Das hat sich aber bei Zayn ganz anders angehört."
Nur zu gut erinnere ich mich daran, was er im Esszimmer gesagt hat. Dass sie mich nicht brauchen, um an Informationen heranzukommen, den Blick dabei auf May gerichtet. 

Meine Kollegin stöhnt genervt auf, ihr Körper spannt sich erneut an und ihr Blick wird durchdringender.
"Er hat das gesagt, weil er dir deutlich machen wollte, dass Harry nicht deswegen mit dir zusammen ist."
"War", unterbreche ich sie und bekomme ein genervtes Augenrollen als Antwort.

"Jedenfalls...Harry hätte dich damals auch angesprochen, wenn du Schornsteinfeger gewesen wärst. Zayn hat mir erzählt, wie es damals in der Bar war. Du bist hereingekommen und Harry war sofort hin und weg von dir. Er hat dich einige Minuten beobachtet und dann musste er dich einfach ansprechen."

Ein kurzes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich an seinen dummen Witz denken muss, den er benutzt hat, um das Eis zu brechen. Doch dann erlischt das Lächeln und die Enttäuschung ist wieder da.

"Zayn hat sich große Sorgen gemacht. Nicht nur wegen der ganzen Kunstsache. Harry ist sowas wie sein Bruder, die einzige Familie, die er hat und er wollte mit allen Mitteln vermeiden, dass Harry verletzt wird. Aber er war so fasziniert von dir, konnte nicht mehr aufhören von dir zu schwärmen und als ihr euch dann immer öfter gesehen habt, war er dir bereits vollkommen verfallen. Er liebt dich, Louis. Mit jeder Faser seines Körpers und ich denke, wenn du ihm noch eine Chance geben würdest, würde dieser ganze Blödsinn vielleicht aufhören."
"Bitte was?"
Ich bin mir nicht genau sicher, was May meint.
"Du hast die Macht, dieses ganze Theater zu beenden. Sag ihm, dass du ihm eine Chance gibst und stell die Bedingung, dass er mit dem Kunstraub aufhören soll. Ihr könnt wieder glücklich sein und ich habe auch keine Angst mehr."
Darum geht es hier also?
May will mich benutzen, damit Zayn nicht ins Gefängnis muss?
"Wieso stellst du nicht diese Forderung an Zayn?", möchte ich wissen und ziehe meine Augenbrauen zusammen. Wenn das zwischen den beiden wirklich solch eine große Liebe ist, dann kann sie ihm ja auch einfach vor die Wahl stellen. 
"Weil ich verlieren würde", gesteht sie leise und senkt ihren Blick.

Plötzlich ist von dieser taffen Frau nicht mehr viel übrig. Eher wirkt sie zerbrechlich und klein und am liebsten würde ich sie direkt in meine Arme schließen, was Angesicht der Tatsache momentan allerdings keine Option ist. 

"Ich weiß, dass Zayn mich liebt. Er würde alles für mich machen und mich auf Händen tragen, doch gegen Harry - gegen Harry habe ich keine Chance. Ich weiß nicht, was genau die beiden so eng aneinander bindet, aber gegen diese enge Bindung kann ich nichts auslösen."
"Ach, aber ich?"
"Ich denke schon. Harry ist es, der dieses Hobby begonnen hat. Du kannst dafür sorgen, dass es endet."

Der Kunsthändler Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt