Der Kunsthändler

Hast du mal eine Minute?

Irgendwann weckt mich ein klingelndes Handy.
Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe - aber dieses Handy nervt definitiv.
Murrend presse ich mein Gesicht tiefer in das Kissen, unterdrücke den Drang, meine Augen zu öffnen, wohl wissend, dass es einfach nur viel zu früh sein kann. 
Das Klingeln verstummt und dankbar atme ich aus. 
Endlich.
Doch kaum beginne ich wieder in den Schlaf abzudriften, geht dieses verdammte Ding von vorne los. 
Ich stöhne auf, ziehe mir die Decke über den Kopf und bete, dass gleich endgültig Ruhe sein wird. 
Harry neben mir bewegt sich, die Decke raschelt und ein kalter Luftzug streift meine Hüfte.
"Styles?"
Na toll. Jetzt geht dieser Idiot auch noch an das verfluchte Ding. 
Harry murmelt etwas, was ich unter der Decke nicht richtig verstehen kann. Dann folgt mehrere Male ein "Hmm" und "Mhh", ehe ich ein "Okay, bis gleich" höre.
Gut. 
Schlafen ist hiermit wohl beendet.

"Wer war das?", möchte ich mies gelaunt wissen und drehe mich auf die Seite, schiebe meinen Kopf unter der Decke hervor und öffne blinzelnd ein Auge. 
Harry fährt sich durch die Haare, sieht mich an und schluckt.
"Der Chief."
Sofort bin ich hellwach und schieße in eine aufrechte Position.
"Der Chief!"
Mein Freund nickt unsicher und fährt sich erneut durch die Haare.
"Ich soll zum Revier kommen."
Scheiße!
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Mit wird augenblicklich schlecht und der Knoten in meinem Magen breitet sich in einer rasenden Geschwindigkeit zu einer überdimensionalen Größe aus.
"Warum?"
Harry zuckt mit den Schultern.
"Fuck."

Mein Lockenkopf geht unter die Dusche und beginnt sich fertigzumachen.  Ich kann ihm nur wie paralysiert beim Umziehen zuschauen und überlege fieberhaft, wie ich jetzt herausfinden kann, was da los ist.
Ich kann ja schlecht anrufen und nachfragen. 
Der Chief weiß noch immer nicht, dass Harry und ich zusammen sind und wenn - Fuck.
"Vielleicht weiß May etwas", hauche ich und greife nach meinem Handy, als mir einfällt, dass sie nur wenige Zimmer von uns entfernt liegt. 
Als Harry sich zu mir umdreht, ist er kreidebleich und jagt mir damit nur noch mehr Angst ein. 
Verdammt! Ich dachte, er ist sich so sicher!
"Ich... ich gehe dann mal."
Mit wackeligen Beinen stehe ich auf und ziehe meinen Freund in eine enge Umarmung. 
Zu gerne würde ich mit auf das Revier fahren, aber das geht einfach nicht.  Das wäre viel zu auffällig. 
Wobei...
Ich muss erst mit May reden.
Harry umfasst mein Gesicht und zieht mich in einen Kuss. 
Mir ist zum heule zumute, als ich seine Lippen so sanft und gefühlvoll auf meinen spüre.
Was, wenn das hier unser letzter Kuss sein wird?
"Ich liebe dich", kommt es leise aus dem Mund meines Freundes, gefolgt von einem weiteren Kuss. 
"Sicherlich ist es nichts Schlimmes."
Unsicher nicke ich, küsse ihn und hoffe, dass er recht hat. 

Kaum ist Harry verschwunden, ziehe ich mich an und eile durch das Haus in Richtung Gästezimmer.
Ich klopfe nicht, als ich die Tür aufreiße. Mir doch egal, was die beiden da drinnen gerade machen. 
Doch zu meiner Überraschung steht May vollkommen bekleidet mitten im Raum und bindet sich gerade ihre Haare zu einem Zopf, während Zayn wie eingefroren auf der Bettkante sitzt und so aussieht, als wenn er sich jede Sekunde auf die Füße kotzen würde.
"Ihr wisst es schon?"
May nickt und sieht mich an. 
"Der Chief hat mich angerufen und wollte die Nummer von Harry haben. Er konnte sie nicht im System finden und da keine Ahnung von unserem System hat, brauchte er meine Hilfe."
Gerne würde ich jetzt hier einen Witz über meinen Boss machen, aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt. 
"Danny ist krank und konnte ihm auch nicht helfen. Ich... ich fahre jetzt einfach hin."
"Und wie willst du das begründen?"
Immerhin haben wir keine Schicht.
"Keine Ahnung. Ich schiebe seine Inkompetenz mit dem System vor oder so was."
Frustriert atme ich aus. 
"Ich muss mitkommen. Ich... scheiße, ich kann hier nicht einfach sitzen und warten."
Mein Blick gleitet zu Zayn, doch der bewegt sich noch immer nicht. 
"Wir sollten aber getrennt fahren."

Ich mache mich fertig und fahre zum Revier. 
Mein Magen rebelliert beinahe, als ich aus meinem Wagen steige und die Stufen des Präsidiums ansteuere.
Gott, ich hatte noch nie in meinem Leben so einen verdammten Schiss. 
Mein Blick geht auf meine Uhr, als ich die Tür öffne und hineintrete.
Harry ist jetzt seit eineinhalb Stunden hier. 
Viel zu lange.
May erscheint in meinem Blickfeld. Sie tippt auf dem Computer herum und als sie aufblickt, lächelt sie mich an. 

"Tomlinson? Was machen Sie denn hier?", donnert im nächsten Moment die Stimme des Chiefs in meine Richtung und ich zucke erschrocken und ertappt gleichzeitig zusammen.
Der Chief sieht mich an, zieht seine Augenbrauen kraus und kommt auf mich zu.
"Haben Sie vergessen, dass Sie heute frei haben?"
Hektisch schüttele ich meinen Kopf, räuspere mich mehrere Male und schiebe meine Hände in meine Jackentasche, damit er nicht erkennt, wie sehr sie zittern. 
"Ich habe mein Portemonnaie verlegt und hoffe, dass es hier ist."
Klingt plausibel. Hoffe ich.
"Na, hoffentlich wurde es Ihnen nicht geklaut."
Unsicher lache ich und steuere meinen Schreibtisch an. "Das hoffe ich auch."

Der Chief widmet sich wieder einem Kollegen der anderen Schicht, während ich in meiner Schublade herumkrame. So unauffällig wie möglich als ich meine Geldbörse hineingleiten und jubel eine Sekunde später auf.
"Ha!", rufe ich und halte es in die Luft. Der Chief sieht mich an und grinst. 
"Sie haben auch mehr Glück, als Verstand, oder?"
"Scheint so."
Aber was jetzt?
Harry ist nirgends zu sehen.
Ich kann ja schlecht den Chief fragen, wo er ist. 
Aber May hat doch eben gelächelt, oder?
Als wenn sie Gedanken lesen könnte, ruft May meinen Namen.
"Hast du mal eine Minute?"