Und leider kenne ich sie viel zu gut

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Zwei Tage passiert gar nichts.
Und wenn ich gar nichts sage, dann meine ich es genau so.
Nicht nur, dass Picasso sich nicht blicken lässt, auch die anderen Bürger dieser Stadt scheinen die Nacht einfach mal zum Schlafen zu nutzen. 
Es gibt weder einen Unfall, noch eine Schlägerei oder einen simplen Ladendiebstahl. Die Stadt scheint sich von seiner Musterseite zu zeigen, was an sich ja wirklich toll ist, aber nicht, wenn man Nachtschicht hat und einfach nur ins Leere starrt. Den Papierkram habe ich in den ersten drei Stunden von Tag Eins erledigt und seit dem sitzen wir auf dem Revier und schaukeln gemütlich mit den Eiern. 

"Ich sage es dir, Liam, ich werde noch irre."
Mein bester Freund lacht, sieht von seinem Buch auf und schiebt seine Brille auf den Kopf. 
"Genieß doch einfach mal die Ruhe."
Die Ruhe genießen. Witzig.
Das mache ich zu Hause. In meinem Bett oder sonst wo, aber nicht auf der Arbeit. Acht Stunden können enorm lang werden, wenn man überhaupt nichts macht. 

Ich mache mir einen weiteren Kaffee.
Nummer Sieben vielleicht, keine Ahnung. Ich habe aufgehört, zu zählen. Mein Blick gleitet zu Mike und Scott. Mike schläft unter seinem Schreibtisch und Scott spielt Sudoku. Die können alle wunderbar mit der Situation umgehen.
Schön für sie. 
"Erzähl mir lieber, wie es mit deinem Antrag läuft."
Mit meinem Kaffee setze ich mich auf die Kante von Liams Schreibtisch und grinse ihn an. Sofort ändert sich seine Miene.
"Ich warte-" -"auf den richtigen Zeitpunkt. Das sagtest du bereits. So an die hundertmal, wenn ich richtig zähle."
"Hundertundsieben", mischt sich May von ihrem Platz aus ein und grinst. Liam hingegen verdreht seine Augen.
"Ihr versteht das nicht." grummelt er und schiebt seine Brille zurück auf seine Nase. 
"Du kannst mir nicht sagen, dass es in den letzten sechs Monaten keinen einzigen Zeitpunkt gegeben hat."
"Es sind neun Monate", mischt sich May erneut ein und ich lache leise auf. Gut, dann eben neun Monate.
"Habt ihr kein eigenes Leben?", will Liam wissen und steht von seinem Schreibtischstuhl auf. "Was ist mit deinem Lover? Hm? Wann macht ihr endlich kein Geheimnis mehr aus eurer Beziehung?"

Autsch.

Mays Blick trifft meinen und mitleidig sieht sie mich an. Sie hat mir geraten, einfach reinen Wein einzuschenken, aber da der Chief genau an dem Tag eine abfällige Bemerkung über Beziehungen am Arbeitsplatz gemacht hat, habe ich mich dann doch nicht getraut.
Denn irgendwie arbeitet Harry ja für uns.
Noch.
Wir müssen endlich diesen Dieb in die Finger bekommen.
Wie auf das Kommando klingelt das Telefon und May nimmt den Anruf entgegen. Ihre Augen weiten sich, wild nickend tippt sie auf ihrer Tastatur herum und als sie dann zu uns sieht, wissen Liam und ich bereits, was los ist.
"Picasso!".

Wir fahren so schnell wie es geht zu genau dem Museum, in welchem uns Picasso entwischen konnte.
Es war also wirklich nur eine Frage der Zeit, bis der dorthin zurückkehren würde und seine Arbeit beenden wollte.
Also wir jedoch ankommen, erwartet uns bereits ein wütend, schimpfender Museumsleiter und ein keuchender Wachmann, der seine Hände auf die Knie stemmt und allen Anschein nach kaum Luft bekommt. 
"Ja wundervoll!" werden wir begrüßt, als wir bei den beiden ankommen. "Kommen Sie auch endlich mal?"
Ich schaue auf meine Uhr und verdrehe meine Augen. "Wir haben gerade mal fünf Minuten gebraucht."
Also wirklich.
Fliegen können wir auch nicht. 
Und fünf Minuten sind nun wirklich schon schnell, wenn man bedenkt, dass wir bei normaler Geschwindigkeit deutlich länger brauchen. 
"Tja, das bringt uns jetzt aber auch nichts. Der Dieb ist auf und davon."
Seufzend krame ich mein Notizblock hervor und sehe den Wachmann an, der wieder etwas normaler atmet.
Der sportlichste ist er nicht.
Sein Körper macht nicht den Anschein, als wenn er so einen spontanen Sprint gut vertragen kann. 
"Ich bin ihm hinterher", keucht besagter Wachmann und richtet sich auf. Seine Wangen sind rot, seine Augen geweitet und die Stirn glänzt vor lauter Schweißperlen. "Aber er war einfach zu schnell."
Nickend schreibe ich mir seine Aussage aus und sehe dann zu meinem Kollegen, der auf den Museumsleiter einredet.
"Schauen wir uns die Aufnahmen an."

Wir gehen den gewohnten Gang entlang und während der Leiter vorweg geht, schlendern Liam und ich hinterher. Der Wachmann bleibt an der frischen Luft.
Sicherheitshalber.
"Sollen wir Styles rufen?", will ich wissen und habe große Mühe, ihn nicht bei seinem Vornamen zu nennen. Mein bester Freund zuckt mit den Schultern. "Schauen wir uns erstmal die Aufnahmen an. Wenn es eindeutig ist, kann er das Gemälde auch morgen bei uns abholen."
Wie sehr sich Harry über die schriftlichen Gutachten vorgestern Nacht aufgeregt hat, verschweige ich lieber. 
Aber es muss sein. Denn auch, wenn man auf den Aufnahmen eindeutig erkennen kann, dass die Gemälde ausgetauscht werden, so muss ein externes Gutachten ausgestellt werden, damit es vor Gericht als Beweis durchgeht. Und auch, um auszuschließen, dass das Original versehentlich für eine Fälschung gehalten wird. 
Harry ist davon sehr genervt, aber ich konnte ihn schnell auf andere Gedanken bringen, sobald ich von meiner Nachtschicht zu Hause war.
"Woran auch immer du gerade denkst, stell es ein. Wir müssen uns die Aufnahmen ansehen."
Ertappt nicke ich und grinse meinen besten Freund an. 
Gut, dass er nicht weiß, woran ich gedacht habe. 
Aber Yoga zahlt sich bei Harry definitiv aus.

Wir schauen uns also besagte Aufnahmen an und schon nach kurzer Zeit habe ich wieder dieses seltsame Gefühl in meinem Bauch. Es ist wieder dieses Gefühl von etwas Vertrauten. Als wenn mein Bauch mir irgendetwas sagen will, aber mein Kopf einfach nicht darauf kommt. 
Als wir sehen, wie der Dieb die Fälschung aufhängt und erneut diese eine Pose macht, kommt zu meinem seltsamen Gefühl noch ein weiteres hinzu. Dieses Mal ist es eine Vorahnung. Ein Gefühl, als wenn etwas Schlimmes bevorstehen wird. 
So, als wenn man Morgen aufwacht und schon weiß, dass dieser Tag komplett beschissen wird. 
Nur das sich dieses Gefühl nicht auf diesen Tag bezieht, sondern auf den Dieb. 
Irgendwas sagt mir, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.
Nur leider weiß ich nicht was. 
Und dann, zwei Minuten später, als Liam um eine Vergrößerung eines Ausschnittes bittet, bleibt meine Welt für einen Moment stehen.
Mein Herz zieht sich qualvoll zusammen, mein Körper beginnt zu brennen und ein nervender Tinnitus erklingt in meinem linken Ohr. 

Ich kenne diese Schuhe.
Und leider kenne ich sie viel zu gut.

Der Kunsthändler Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt