Kapitel 2-2

101 12 3
                                    

Die Halle war erfüllt vom emsigen Klappern der Webstühle, dem Sirren des Garns auf den Spinnrädern und dem Singsang so mancher Arbeiterin, die sich damit das Tagwerk erleichterte. Gespräche wurden auf das Notwendigste reduziert. Herrschte am Anfang ihrer Zeit hier noch lautes Getratsche unter den Weberinnen, so hatte Herr Webmann, der neue Vorarbeiter, dafür gesorgt, dass jede Frau sich aufs Genaueste konzentrierte. Dabei brauchte es kaum der Konzentration, wenn der Webstuhl einmal richtig eingestellt war.
Justina hatte das Glück, unter all den verschiedenen gebraucht aufgekauften Varianten, einen der besseren Stühle bekommen zu haben. Das Schiffchen, das den Faden emsig über die Kettfäden strich, war in einer Lade untergebracht und musste von ihr nur hin und hergeschoben werden. Die Weblade selbst ließ sich mit einem Fußtritt betätigen. Somit arbeitete sie beinahe bequem im Sitzen, während andere ohne ständiges Aufstehen gar nicht vorankamen.
Eine der unglückseligen Neuankömmlinge hatte sogar gar keinen Webstuhl mehr zur Verfügung. Mittels eines einfachen Webrahmens vollbrachte sie in mühevollster Arbeit nicht einmal ein Zehntel dessen, was die anderen schafften. Ginge es nach Herrn Webmann, so wäre sie schon wieder rausgeschmissen geworden, bis sie das nötige Werkzeug besaßen, aber Baron Kloppenburg bestand darauf, sie weiter hierzubehalten. Er versprach, ehestmöglich ein ansprechendes Gerät dafür zu finden, und hatte die Arbeiterinnen angehalten, sich umzuhören, ob irgendwo ein Weber, der sein Handwerk niederlegte, plante, seinen Webstuhl zu veräußern. Doch derlei Gelegenheiten waren selten. Viel häufiger stellte ein vermögenderer Handwerksmeister den oft verarmten anderen ein und verdiente das Doppelte.
Mit flinken Fingern führte Justina das Schiffchen hin und her. Mit jedem Schub der Weblade erweiterte sich das Tuch um eine Reihe und rollte sich auf die Walze zu ihren Füßen. Sie ärgerte sich bereits jetzt. Beim Einstellen des Webstuhls hatte sie einen Fehler gemacht, der dazu geführt hatte, dass einer der Kettfäden beständig durchhing und das Muster auf dem Stoff verschob. Herr Webmann war bereits darauf aufmerksam geworden. Zu Justinas großem Glück war er dankbar, dass sie hinsichtlich ihrer Fertigkeiten den anderen weit überlegen war. So rügte er sie zwar, jedoch nachgiebiger, als es andernorts der Fall war. Doch sie selbst schalt sich umso mehr. Alles von Neuem aufzuspannen hätte sie zu lange aufgehalten. So vergeudete sie ihre Zeit damit, ein Tuch zu fertigen, welches niemals die Hand eines wohlhabenden Kunden berühren würde.
Das Schwierige am Weben war nicht das Auffädeln des Fadens. Je besser der Webstuhl, desto einfacher gestaltete sich dieser Prozess. Jedoch die Fäden genau abzumessen, sie einzuspannen, durch die richtigen Litzen zu führen war eine Kunst, die Jahre der Übung bedurfte. Auf der Burg ihres Vaters hatte sie die Grundzüge des Handwerks vom ortsansässigen Webermeister gelernt, der ihren kindlichen Eifer mit Freude unterstützt hatte. Natürlich hatte er es sich nicht leisten können, jeden Schritt – insbesondere, wenn es an die Verarbeitung teurer Seide ging – von ihr übernehmen zu lassen. Aber sie durfte mal hier mal da Hand anlegen und sich somit ein bruchstückhaftes Wissen aneignen, dass sie nun quälend langsam vervollständigte.
Eigentlich hatte sie eine Lehre bei einem Schneidermeister anfangen wollen. Neben dem Weben hatte sie auch das Sticken, Nähen und Häkeln gelernt, außerdem die Grundzüge des Tuchschneidens – wenngleich sie als Frau dieses Handwerk offensichtlich nicht beigebracht bekommen durfte. Das strenge Zunftwesen vermochte es ihr zwar verbieten, die Schneiderkunst zu erlernen, aber sie konnten sie kaum daran hindern, es auf eigene Faust zu probieren. Sobald sie sich ihr eigenes feines Tuch weben könnte, plante sie, sich auf dieses Projekt zu stürzen. Doch bis dahin galt es, jedes Wort Herrn Webmanns aufzusaugen und zu verinnerlichen. Leider haderte er vielerorts noch an den Grundzügen der anderen Arbeiterinnen und er fand kaum Zeit, um sie weiter zu unterrichten.
Ein Klatschen ließ Justina aufschrecken. Hertha hielt sich die Wange. Das junge Mädchen war schon vor Justina in der Manufaktur angestellt geworden, brauchte aber um einiges länger, um sich einzuarbeiten. „Sieh dir das an! Diese Kettfäden sind nicht ordentlich ins Band eingearbeitet. Dein Tuch taugt nicht einmal als Waschlappen!", herrschte Webmann sie an.
„Ich bitte um Entschuldigung, gnädiger Herr."
„Entschuldige dich bei deiner Mutter, dass du ihr solche Schande machst!" Ein Schlag ging auf ihren Rücken hernieder. Niemand wagte es, sich einzumischen. Zwar waren die meisten der Frauen von älterem Schlag und Webmann sprang mit ihnen weit weniger rabiat um. Doch niemand wollte seine Aufmerksamkeit unnötig auf sich ziehen. Justina biss sich auf die Lippe. Am liebsten hätte sie dem armen Ding geholfen. Aber sie war auf seine Gunst angewiesen, wenn sie sich verbessern wollte.
Herr Webmann hob erneut die Hand. „Gestern die Litze, die du hättest tauschen sollen, vorgestern die losen Fäden im Schuss! Wenn es nach mir ginge, dann ..."
Seine Hand wurde von hinten gestoppt, ehe sie auf die Arbeiterin niederfahren konnte. Herr Kloppenburg war zugegen und gebot seinem Vorarbeiter Einhalt. „Wenn ich mich recht erinnere, bat ich Euch, die Damen zu lehren, nicht sie zu erziehen."
Webmann drehte sich zu seinem Arbeitgeber herum und stemmte die Hände in die Hüften. „Mit Verlaub, mein Herr, aber so manchem dummen Ding kann man die Fertigkeit nur durch Hiebe einbläuen. Ein leichter Schlag auf den Hinterkopf hält den müden Lehrling wach, ein Streich auf den Rücken treibt ihn an und eine Ohrfeige lässt ihn die Wichtigkeit seines Tuns in Erinnerung rufen."
„Mein Vater pflegte uns mit einfacher Strenge zur notwendigen Strebsamkeit anzutreiben."
„Das mag für einen Knaben von edlem Geblüt gelten, doch bei solch niederen Frauenzimmern..."
„...wird es auch seine Wirkung zeigen. Meine Schwester ist wunderbar geraten, gleichwohl sie nie die Hand meines Vaters von Nahem sehen musste."
Webmann atmete ungeduldig ein und aus. „Wenn wir das faule Gemüse einfach entfernten und nur die gesunden Triebe zur Blüte brächten, könnte ich Euch zustimmen."
Adam legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn fest an. „Mein guter Mann, ich weiß Eure Sorge zu schätzen. Aber ich habe sämtliche Arbeiterinnen hier in meine Dienste genommen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen, nicht um sie auszusortieren."
„Ihr werdet Euer Unterfangen mit dieser Einstellung in den Ruin treiben!"
„Wie wäre es, wenn sich die weniger Begabten auf die Leinenproduktion konzentrieren und Ihr für wertvollere Tücher Euer Augenmerk auf die, nach Eurer Ansicht, fleißigeren Damen richtet?"
Der Vorarbeiter verschränkte die Arme und brummte unwillig. „Wir sollten den Lohn entsprechend aufteilen, um sie anzuspornen."
„Lasst das meine Sorge sein, guter Mann. Ich möchte niemanden hier benachteiligen, gleichwohl ich mir im Sinne aller wünsche, dass jede Dame ihr Bestes gibt." Er lächelte in die Runde und die Frauen erwiderten die Geste scheu. Justina hatte noch nie einen Edelmann gesehen, der mit solcher Höflichkeit mit seinen Untergebenen umging. Andererseits war Herr Kloppenburg auf sie angewiesen. Er hatte die Frauen aus den Häusern getrieben, in der Hoffnung, sie würden hier derartig vergütet, dass ihr Fleiß sich auszahlte. Derweil war das noch nicht so, aber sobald der Jahrmarkt erfolgreich vergangen war, plante er, ihre Mühe in barer Münze zu entlohnen. Ein Grund mehr für sie, sich ins Zeug zu legen, um seinen und damit ihren Erfolg zu sichern.
„Darf ich offen sprechen, Herr?", fragte der Vorarbeiter.
„Eure Meinung ist mir wichtig."
„Gleichwohl das Leinenweben eine gute Übung darstellt, finde ich, dass wir uns auf die edlen Stoffe konzentrieren sollten. Die Leute werden nicht für etwas zahlen, dass sie selbst zuhause herstellen können."
„Sobald unsere Arbeiterinnen ihre Kunstfertigkeit verbessert haben und gute Qualität in großen Massen bereitstellen, wird es sich für sie rentieren, ihre Stoffe auswärts zu kaufen, statt sie selbst herzustellen."
Webmann schürzte die Lippen. „Ihr sprecht, als würden die Webstühle hier das Tuch nur so ausspucken."
Adam legte ihm vertraulich die Hand auf den Oberarm und machte eine ausschweifende Handbewegung. „Überlegt einmal. Wenn hier erst statt zwanzig Stühle vierzig, fünfzig oder gar über einhundert stehen, dann werden wir gar zusätzlichen Lagerraum brauchen, um all die Stoffrollen unterzubringen."
„Lasst uns erst einmal den Jahrmarkt hinter uns bringen, ehe wir uns der Phantasterei hingeben."
Die beiden diskutierten noch eine Weile, bis sich der Vorarbeiter verdrossen abwandte und anfing, die Arbeiterinnen in Gruppen einzuteilen. Selig die, die an den Spinnrädern saßen und einer Tätigkeit nachgingen, die jede von ihnen perfekt beherrschte. Hertha gelangte selbstverständlich in die Gruppe von Frauen, die nur Leinen weben würde. Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie dankbar, somit weniger Aufmerksamkeit des Vorarbeiters auf sich zu ziehen. Doch der nötige Fleiß stellte sich trotz seiner Züchtigung nicht ein. Viel eher war sie nun gänzlich damit beschäftigt, den Blick auf Herrn Kloppenburg zu richten. Als würde ein Adeliger sich auf eine niedere Bürgerliche einlassen.
Ob Adam wohl wusste, dass sie aus edlem Haus stammte?


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt