Kapitel 9-1

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Justina stocherte lustlos in ihrem Getreidebrei herum. Die zähe Masse ging ihr nur mit einem zusätzlichen Schluck Milch hinunter und erzeugte in ihr das Gefühl, sie wieder hochwürgen zu müssen. Sie hatte verschlafen – zumindest im Vergleich zu ihren sonstigen Aufstehzeiten. Martin hatte sie immer zeitig aufgeweckt, da er schon in aller Frühe zum Morgenappell musste. Sie vermisste den brüderlichen Beistand. Jetzt umso mehr, da eine Entscheidung zu fällen war. Sollte sie sich gar nicht erst auf den Weg zur Manufaktur machen? Gleich nach einer neuen Arbeit Ausschau halten? Gestern hatte sie sich ihrer Sache noch sicher gefühlt, heute erschien es ihr, als stemme sie sich gegen Windmühlen.
Schließlich raffte sie sich doch auf und ging zur Arbeit. Die Straßen waren erfüllt von Geschäftigkeit. Frauen, die auf dem Weg zum Markt waren, Arbeiter auf dem Weg in die Werkstatt und das Geplärre von Händlern, die schon vor allen anderen auf den Beinen waren. Das große Gebäude, eine ehemalige Lagerhalle, die Adam gemietet hatte, klaffte wie ein Mahnmal vor ihr auf. Was würde sie im Inneren erwarten? Hatte die Menge sich möglicherweise beruhigt und war reumütig zurückgekehrt? Zweifelhaft, nachdem sie ihren Herren bestohlen hatten und wohl kaum auf eine friedfertige Lösung hoffen konnten.
Das morgendliche Halbdunkel begrüßte sie, als sie die Tür öffnete. Nur an vereinzelten Arbeitsplätzen erhellte eine Kerze das Gesicht einer arbeitenden Frau. Justina konnte sie an einer Hand abzählen. Ohne einen Blick auf die anderen zu werfen, begab sie sich zu ihrem Platz. Sie setzte ihre gestrige Arbeit fort. Das Hin- und Herrutschen des Webschiffchens erklang ungewohnt laut in der weiten Halle. Es fühlte sich an wie ein Störgeräusch, inmitten des entfernten Quietschens der Spinnräder.
Von Herrn Webmann war keine Spur. Für gewöhnlich war er schon weit vor den Arbeitern hier. Hatte Adam nicht einmal die Tür am gestrigen Abend zugesperrt? Justinas Blick wanderte über die Stoffrollen, die in einer Ecke des Raums aufgereiht standen. Wertvolle Güter, die einem Dieb ein erträgliches Sümmchen brächten, wenn er sie an den richtigen Mann verkaufte. Aber noch zu wenige, um einen Großhändler zu beeindrucken.
Die Tür zu Adams Zimmer öffnete sich und er rief eine der Spinnerinnen zu sich herein. Also war er schon seit geraumer Zeit hier. Es war bald Monatsende. Vielleicht zahlte er die Gehälter dieses Mal ein paar Tage im Voraus. Die Frau kehrte kurze Zeit darauf mit einem zufriedenen Lächeln zurück, verabschiedete sich bei ihren Freundinnen und verließ die Manufaktur.
Justina schluckte schwer und ihr Tun geriet ins Stocken. Als auch die zweite Spinnerin mit ihrem Lohn verschwand, schwante ihr Übles: Entließ Adam sie alle? Schloss er die Manufaktur? Was für ein fürchterlicher Gedanke, dass ihre Liebe ihm all seine Träume zerstört hatte. Wofür also noch weiter weben? Das Stück Stoff würde in den nächsten Stunden nicht fertigwerden und wer würde es fortsetzen, wenn Justina nicht mehr hier war? Hertha wurde nach drinnen gerufen und sie kehrte mit nüchternem Blick zu ihrem Platz zurück. Verbissen webte sie weiter an ihrem Leinen. Es war gute Arbeit, soweit Justina das von ihrer Warte aus einschätzen konnte. Offenbar stellte Adam es den Arbeiterinnen frei, ob sie gehen wollten. Oder aber Hertha widersetzte sich und kämpfte gegen die Schließung ihrer Arbeitsstelle an.
„Frau Raubmann", rief Adam, worauf Justina sich erschrocken aufrichtete. Sein Kopf zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, aber die Tür blieb geöffnet. Sie strich ihren Rock glatt und betrat mit Unbehagen seinen Raum. Das Innere wirkte, als wäre eine Büffelherde mitten hindurchmarschiert. Das Mobiliar war beschädigt, Stoffüberzüge eingerissen, Läden hingen schief in ihrer Halterung, die Überreste eines Stuhls lagen zertrümmert in einer Ecke. Adams Schreibtisch quoll über vor Papieren, die er offenbar wahllos zusammengeklaubt und getürmt hatte. Inmitten dieses Chaos saß er mit einer Geldkassette und bat sie, auf dem heilen Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Seine Miene war ausdruckslos. Sie setzte sich und faltete die Hände im Schoß, den Blick zu Boden gesenkt.
„Frau Raubmann, ich zahle Euch Euren Lohn bereits heute aus, da ich den Betrieb mit Ende des Monats einstellen werde. Es steht Euch frei, hiernach zusammenzupacken und eine neue Stelle zu suchen."
„Das kann nicht Ihr Ernst sein!" Sie hob den Blick und sah ihn direkt an, doch seine Augen lagen auf der Geldkassette, aus der er ihren Lohn abzählte.
„Ich bedauere, aber das ist es." Er hielt ihr das Geld hin. Sie machte keine Anstalten, es entgegenzunehmen.
„Was ist mit dem Jahrmarkt? Wir haben genügend Stoff produziert, um dort aufzutreten."
Er legte die Münzen auf der Tischplatte ab. „Das soll meine Sorge sein."
„Lasst mich Eure Last teilen!"
„Ihr solltet das Beste für Euch selbst tun und Euch eine neue Stelle besorgen."
„Warum seid Ihr so kalt mir gegenüber?", fragte sie und schlug mit der Faust auf den Tisch. Sie hatte eine Erklärung verdient. Erst machte er ihr Hoffnung, dann stieß er sie wieder von sich.
Er sah sie einen Moment forschend an, ehe er tief einatmete und sich eine kleine Zornesfalte auf seiner Stirn bildete. „Wenn ich die Situation richtig einschätze, dann ward ihr es, die diesen Tumult angezettelt hat."
„Ich beging einen Fehler. Ihr habt mich geküsst, mir Hoffnung gemacht und dann habt Ihr mich in keiner Weise mehr beachtet."
„Ich hielt es für das Beste, um Euch nicht weiter zu belasten."
„Empfindet Ihr denn gar nichts für mich?"
Er verdeckte das Gesicht mit der Hand. „Ihr seid eine hübsche, junge Frau. Ich kann nicht leugnen, dass ich Euch grundsätzlich zugetan wäre, aber ich liebe eine andere."
Es fühlte sich an, als zöge er ihr den Stuhl unter dem Hintern weg. Innerlich fiel Justina, während die Lehne ihren Körper an Ort und Stelle hielt. „Aber Ihr tragt keinen Ring. Nie sah Euch irgendjemand mit einer Frau!"
Adam legte die Hände unters Kinn, als müsse er seinen Kopf stützen, sodass er nicht herabsackte. „Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch am Leben ist."
„Wie ist ihr Name?"
„Johanna Jeverbruch."
Der Name sagte ihr nichts. Doch mit Sicherheit war es eine Edelfrau. Der Familienname klang nach einem Ritter, somit möglicherweise eine Frau vom Land. „Und warum verwendet Ihr Eure Zeit auf eine Frau, über deren Verbleib Ihr nicht einmal Bescheid wisst? Wollt Ihr Euer Leben nicht lieber mit jemandem verbringen, der Euch hier und jetzt zur Seite stünde?"
„Ich habe ein Versprechen gegeben."
„Also wollt Ihr einsam und allein dahinscheiden, während Eure Liebe womöglich bereits in den Armen eines anderen verweilt?"
Alexander verzog die Lippen, doch schließlich hob er die Schultern. „Das ist jetzt ohnehin hinfällig. Ich könnte den Brautpreis nicht mehr aufbringen."
„Für mich müsstet Ihr keinen zahlen! Ich bitte Euch. Gemeinsam können wir all das hier retten. Ich kann doppelt so viel arbeiten und Ihr spart Euch meinen Lohn."
Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen, ehe er den Kopf schüttelte, sich erhob und ihr das Geld hinschob. „Uns fehlen die Arbeiter, um die Menge herzustellen, sodass wir langfristig die Miete für diese Halle stellen können."
„Stellt neue ein."
„Mein Ruf ist dahin. Niemand wird mir mehr glauben, dass ich eines Tages den Lohn erhöhe."
„Dann erhöht ihn jetzt. Der Jahrmarkt beginnt in zwei Monaten. Was macht das schon aus?"
„Eine Menge, wenn man kaum noch über die Mittel verfügt."
„Geht zur Bank."
„Die will nichts von mir hören."
Justinas Gedanken flogen nur so dahin. Was konnte sie tun? Wie das Schicksal wenden? Diese entfernte Liebe Adams hatte sie zurückgeworfen, aber zwang sie nicht zum Aufgeben. Sie würde ihn diese Frau vergessen lassen. Wenn er erst einmal ihren Nutzen erkannte und sah, wie sehr sie sich für ihn einsetzte.
„Frau Raubmann, ich muss Euch bitten, nun Euren Lohn zu nehmen. Ich habe heute noch ein Gespräch in der Kaserne."
„Ihr wollt zum Militär gehen?"
„Eine übliche Anstellung für einen besitzlosen Edelmann."
„Tut das nicht!"
„Geht jetzt!" Er wies ihr die Tür mit dem Zeigefinger. Sein Geduldsfaden hatte endgültig sein Ende gefunden.
Justina ergriff seine Hand und sah ihn flehend an. „Gebt mir drei Tage."
„Ich gebe Euch ke ..."
„Ich schwöre Euch! Bei meiner Liebe. Ich besorge Euch die nötigen Arbeiterinnen. Sie werden zum selben Lohn arbeiten, wie die bisherigen."
„Ihr tut, als unterstünde Euch eine ganze Dorfgemeinschaft."
Sie streifte den Ring ihrer Mutter ab und legte ihn auf seinen Tisch. „Nehmt das als Pfand, als Beweis meiner Treue. Bin ich innerhalb von drei Tagen nicht zurück, so könnt Ihr ihn verkaufen."
Adam besah den Ring mit einem Stirnrunzeln, hob ihn hoch und betrachtete ihn. „Ein schönes Stück." Er ergriff ihre Hand und streifte ihn ihr über. „Er gehört an eine schöne Hand." Damit wandte er sich wieder von ihr ab und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Ihr habt drei Tage."


Tanz der GefühleWhere stories live. Discover now