Kapitel 5-1

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Liebe Mina,
Ich kann deine Sehnsucht gut verstehen. Es ist schlimm, so weit von jemandem entfernt zu sein, den man liebt. Wobei es mir schwerfällt, zu glauben, dass du ihn wirklich magst. So wie du ihn beschreibst, scheint ihr wenig gemein zu haben. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Ehrlichkeit.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dir lange fern bleibt. Wer einmal deinem Charme erlegen ist, der hält es nicht mehr ohne ihn aus. Wenn diese Cäcilia allerdings so aufdringlich ist, wie du sie beschreibst, dann würde ich mir ebenso Gedanken machen. Auch ein willensstarker Mann kann dem Fleisch erliegen, wenn sich eine Frau ihm provokant nähert.
Hier in Königsfels wird Herr Kloppenburg, der Arbeitgeber meiner Schwester, wohl bald dieselbe Prüfung erhalten. Justina ist fest davon überzeugt, ihn umgarnen zu müssen. Ich hoffe, sie verrennt sich da in keine Liebelei. Sie hatte schon immer gerne anfallsartige Einfälle, in die sie sich verbiss, wie die Maus in den Speck.
Mein Alltag schleppt sich träge dahin. Leider gibt es hier keinen, der mich zu einer Runde Federball fordern würde. Das Schießen macht nur halb so viel Spaß, ohne dass du dich über den Lärm beschwerst. Ich freue mich schon auf unsere Heimkehr, auf das ich dich in gewohnter Manier belästigen kann.
Martin

Das Fehlen der Lanzbruchs bewirkte, dass Mina wieder in ihren gewohnten Trott verfiel. Sie schlief aus, aß in ihrem Zimmer und fühlte sich nicht genötigt, sich mit unbequemer Kleidung abzumühen. Ihre Mutter beharrte darauf, dass sie weiter das Singen üben solle.
Ihre einzige Qualität, die Stephan zwar nicht in Begeisterung versetzte, ihm aber zumindest höfliches Interesse abgerungen hatte. Vielleicht konnte sie ihn ja beeindrucken, wenn sie ihre Fertigkeit darin über alle Maßen verbesserte? Da sie ohnehin sonst kaum einen Zeitvertreib fand, der ihr lohnenswert erschien, übte sie auch schon tagsüber mal mit mal ohne ihre Mutter.
Ihr Vater war über ihre Bemühungen zunächst angenehm erfreut. Doch mit dem Verstreichen der Tage sorgte er sich mehr und mehr um den Bestand ihres Bündnisses. Womöglich hatte ihm ein anderer Baron ein besseres Angebot unterbreitet. Schlussendlich ging es in erster Linie um Holz und die Minnesangs hatten bei Weitem nicht die ausgedehntesten Wälder in der Grafschaft Arling.
Nach dem siebten Tag konnte er Minas Gesinge dann überhaupt nicht mehr hören, erinnerte es ihn doch stets an die Lanzbruchs, die er aus seinen Gedanken zu verbannen suchte. Damit bestärkte er nur noch Minas Bedenken bezüglich Cäcilia.
Vielleicht sah Stephan in ihr auch ein besseres Angebot. Sicher zierte sie sich weniger, ihn sich an ihrer Weiblichkeit laben zu lassen. Hatte sie ihn erst in ihrem Bett, wäre der Schritt zur Eheschließung nicht mehr weit. Womöglich würde sie sogar erwähnen, es als Druckmittel gegen ihn einzusetzen, oder versuchen, ihm ein Kind aufzuhalsen, um ihn völlig an sich zu binden. Im Gegensatz zu ihrem Vater konnte sie den Gedanken nicht ausmerzen oder abschwächen. Sie wachte morgens damit auf und ging abends damit zu Bett. Sie brauchte Gewissheit.
Schlussendlich schlug Mina vor, sie könne den Lanzbruchs doch hinterher reisen. Aus Sehnsucht nach ihrem Liebsten. Bei dieser Gelegenheit könnte sie sich umhören, wie es um die Verhandlungen mit den Hemmwehrs stand und ob diese auch im Interesse aller drei Baronien war. Während ihre Mutter das für keine gute Idee hielt, einem Mann geradezu nachzusteigen, war ihr Vater sofort Feuer und Flamme. Er wollte ihr eine Kutsche bereitstellen, aber Mina hatte nicht vor, die längere Wegzeit auf sich zu nehmen. Mit dem Argument, es wirke um einiges echter, wenn sie allein losritt, konnte sie sich durchsetzen. Bedenken bezüglich Vagabunden und Untieren wusste sie zu verneinen. Sie würde in aller Frühe aufbrechen und bei entsprechendem Tempo noch vor der Abenddämmerung dort eintreffen.
Schon am nächsten Tag begann die Reise. Sie kleidete sich schlicht an, um ihr das Erscheinungsbild einer Dienstmagd zu verleihen, packte ausreichend Proviant ein und verließ ihr Anwesen kurz nach dem Morgengrauen. Der Ritt war befreiend, forderte ihre Konzentration und nahm ihr somit die trübsinnigen Gedanken. Sie ritt wie ein Mann ohne Damensattel, um schneller voranzukommen. Außerdem konnte sie nicht nachvollziehen, warum eine Frau diese unpraktische Haltung einnehmen sollte. Viel eher mussten die Männer seitlich aufsitzen, um ihr empfindliches Gemächt zu schützen.
Sie war noch nie allein so weit draußen gewesen. Eine Frau war in ständiger Gefahr, konnte sich ihres Leibs nicht erwehren – zumindest hatte das ihre Mutter ihr eingebläut. Mina sah hierin eine Prüfung für ihr späteres Leben. Sollte ihr Gatte ihre Leidenschaft nicht teilen, würde sie sich zukünftig daran gewöhnen müssen, auf eigene Faust die Welt zu erkunden.
Sie spornte ihr Pferd zu schnellerem Galopp an. Der Wind pfiff ihr durch die Haare, während sie der aufsteigenden Sonne entgegen ritt. Sie kannte den Weg nicht perfekt, aber die Wege zwischen den Baronien waren durch gut erkennbare Trampelpfade verbunden. Solange das Tageslicht ihr den Weg leuchtete, würde sie nicht davon abkommen.
Zur Mittagszeit rastete sie unter dem Blätterdach einer Eiche, während ihr Pferd neben einem Bach graste. Sie fragte sich, wie Stephan auf ihr Kommen reagieren würde. Die Worte ihrer Mutter hallten in Minas Kopf nach. Würde er sie als hysterisch einschätzen? Wohl kaum. Eher wäre es eine erfrischende Abwechslung, dass sie sich nicht so zimperlich und zurückhaltend gab, wie er es sicher von einigen anderen Frauen kannte. Sie würde ihm beweisen, dass in ihr mehr steckte als Singen und Sticken.
Mina klopfte den Staub von ihrem Kleid und streckte den Rücken durch. Martin hatte sie gelehrt, dass selbstbewusstes Auftreten so manchen Fehler kaschieren konnte und einen Menschen in ganz anderem Licht erscheinen ließ. Nicht umsonst marschierten sie bei der Armee mit gehobener Brust.
Es war erst früher Nachmittag, als sie das Herrenhaus vor sich sah. Die Hemmwehrs hatten bereits vor der Erweiterung ihres Lands über ein gewisses Maß an Reichtum verfügt. Das Haus war um einige Jahre älter als ihr eigenes. Ein neu dazu gebauten Anbau zeugte vom Wachstum ihrer finanziellen Möglichkeiten.
Sie übergab ihr Pferd dem überraschten Stallburschen und kündigte ihr Kommen bei der Hausdienerschaft an. Ihres Auftretens wegen erlaubte sich keiner eine Nachfrage, wenngleich ihr Aufzug doch für Unsicherheit sorgte. Sir Hemmwehr kannte sie flüchtig und würde sie hoffentlich wiedererkennen.
Sie wurde durch den Dienstboteneingang geführt, wofür sie die Bediensteten noch rügen würde, aber schließlich erschien der Herr des Hauses und empfing sie in der Küche, wo gerade das Abendessen bereitet wurde. Der Menge nach war der Haushalt der Hemmwehrs groß oder sie hatte Glück und die Lanzbruchs waren tatsächlich noch vor Ort. Letzteres stimmte sie nachdenklich, da es kaum so lange dauern konnte, ein paar Formalitäten zu klären. Immerhin hatte Baron Lanzbruch behauptet, es ginge vorwiegend um den Transportweg des Roheisens und dafür wolle er noch weitere Baronien aufsuchen.
„Mademoiselle Minnesang?", fragte Sir Hemmwehr mit gehobener Braue. Offensichtlich erinnerte er sich an ihr Aussehen nur vage. Sie vollführte einen höfischen Knicks, um ihn von ihrer Abstammung zu überzeugen. Sie hoffte, dass ihr nachlässiges Studium solcher Zeremoniellen deren Wirkung nicht schmälerte.
„Verzeiht meinen Aufzug, aber es erschien mir sicherer."
Er warf einen Blick aus dem Fenster. „Wo ist Euer Vater?"
„Er beaufsichtigt die Forstarbeiten in seiner Baronie."
„Seid Ihr etwa mit dem Pferd geritten?"
„Jawohl, Sir."
„Allein?"
Mina leckte sich über die Lippen in Überlegung einer Begründung, die nicht das Bild einer verzweifelten Frau weckte. „Unter unserer Dienerschaft grassiert ein übler Durchfall", plapperte sie die erstbeste Ausrede drauflos. Der Hausherr kramte sofort ein Taschentuch hervor und hielt es sich vor die Nase.
„Und das nahmt Ihr zum Anlass eines Besuchs? Braucht ihr eine Aushilfe?"
Mina schüttelte den Kopf. „Besten Dank, wir kommen zurecht. Einzig meine Eltern kamen mit meinen Bedürfnissen nicht mehr zurande, nachdem die geschmälerte Dienerschaft diese nicht ausreichend zu erfüllen wusste."
„Das kann ich mir vorstellen. Meine eigene Tochter macht mir auch so manche Sorgen."
„Mein Vater hoffte, ich könnte meiner alten Freundin Cäcilia vielleicht in den Ohren liegen."
Mina betete, dass Sir Hemmwehr nicht ahnte, dass sie seine Tochter kaum kannte. „Sie wird sich sicher freuen, eine alte Freundin zu sehen", meinte er ausweichend. „Möchtet Ihr vielleicht im Salon ausruhen?"
„Allzu gerne, mein Herr."
Zögerlichen Schrittes führte er sie tiefer in das Haus hinein und ließ die Dienerschaft ihr ein Getränk reichen. Ihre Anwesenheit war ihm sichtlich widerwillig, doch welche Wahl hatte er, als sie höflich zu begrüßen? „Ihr seid also befreundet, Ihr und Cäcilia?"
„Über Umwege durch Euren Sohn Matthias."
Sir Hemmwehr lächelte aufgesetzt. Sicher bereitete ihm die Erinnerung der Ausbildung seines Sohns bei den Minnesangs kein Vergnügen.
„Sind eigentlich die Lanzbruchs noch zu Gast bei Euch?"
Er hob beide Brauen. „Sie verweilen tatsächlich in unserem Haus. Aber zurzeit befindet sich der Baron auf der Jagd."
„Sicher begleitet ihn sein Sohn?"
Sir Hemmwehr presste die Lippen zusammen. „Der Junker bevorzugte es, sich auszuruhen."
Mina runzelte die Stirn und bemühte sich um ein Lächeln. Das wunderte sie, wo doch Stephan bei der Jagd geradezu aufblühte. Hatte er bei den Minnesangs ihre Gewohnheiten übernommen und fühlte sich vermehrt zum Bett hingezogen?
„Ihr seid natürlich herzlich bei uns willkommen, aber darf ich fragen, wie lange Ihr zu bleiben plant?"
Mina lächelte zuckersüß. „Ich plane nicht, Eure Gastfreundschaft über Gebühr zu bemühen. Vielleicht reite ich schon morgen wieder los."
„Ich will Euch nicht das Gefühl geben, Ihr müsstet Euch eilen."
„Nicht doch. Ich will niemandem zur Last fallen, wo Ihr sicher beschäftigt mit Verhandlungen seid."
„Verhandlungen in welchem Bezug?"
„Baron Lanzbruch meinte, er wolle eine Transportroute mitunter durch Eure Baronie errichten."
Sir Hemmwehr nickte mehrfach. „Verstehe, Ihr interessiert Euch also für die Geschäfte Eures Vaters?"
„Ich komme nicht daran vorbei, ihnen zu lauschen. Insbesondere, wo die Lanzbruchs und unsere Familie doch planen, ein engeres Bündnis zu schmieden."
„Als direkte Nachbarn erscheint mir das naheliegend."
„Dürfte ich fragen, ob ich vielleicht Junker Lanzbruch aufsuchen darf? Wir lernten uns während ihres Besuchs näher kennen."
„Ich werde einer Bediensteten gerne mitteilen, dass sie sich nach seiner Befindlichkeit informieren soll."
„Nur keine Umstände."
„Oh, ich bestehe darauf", sagte er eilig.
„Ihr seid zu gütig. Vielleicht mag Eure Bedienstete mir bei der Gelegenheit den Weg zum Klosett weisen?"
Der Hausherr gab einer Dienstmagd die nötigen Weisungen. Doch statt das Klosett zu betreten, beobachtete Mina, wo sie hiernach hinging. Sie lauschte einen Moment vor einem Zimmer. Bevor sie zurück war, war Mina auch schon in dem kleinen Raum verschwunden, der einen herben Geruch nach Urin beherbergte, gegen den sich der Lavendelstock in der Ecke nicht zu wehren wusste. Sie öffnete leise die Tür und lugte auf den Gang. Keine Menschenseele war zu sehen, sodass sie sich die Treppe hinaufschlich und dem Vorbild der Magd folgte und das Ohr ans Holz legte.
Die Geräuschkulisse im Inneren konnte nicht eindeutiger sein. Sie hörte Stephans Stimme, die zwischen leisem Stöhnen unanständige Worte von sich gab. Er wurde übertönt von dem lauteren Seufzen einer Frau, das nur Cäcilias Kehle entspringen konnte.
Dieser Lump! Sie hatte ihn nicht unter ihren Rock gelassen und sofort schlüpfte er unter den nächsten. In ihrer Wut schlug sie gegen die Tür, die durch ihren Schlag vibrierte.
Die Geräusche erstarben, Mina raffte ihren Rock und eilte die Treppe hinunter. Unter einem Tränenschleier setzte sie den Weg zur vermeintlichen Haustür fort und gelangte glücklicherweise ins Freie. Erschrockene Blicke folgten ihr, eine Dienstmagd wollte sie aufhalten, befragte sie nach ihrer Befindlichkeit, aber Mina stieß sie beiseite. Nun musste man sie wahrlich für eine Furie, ein rechtes Biest, halten. Barsch forderte sie ihr Pferd vom Stallburschen zurück, der verdattert meinte, das Pferd bräuchte seine Ruhe. Sie bewarf ihn mit den unflätigsten Worten, die ihr Mund je zu formen gelernt hatte und ohne weitere Widerworte sattelte er das Tier.
Von draußen hörte sie die Rufe Sir Hemmwehrs, der die Suche nach ihr begonnen hatte. Sie schwang sich auf ihr Pferd und preschte aus dem Stall hinaus, ignorierte jeglichen Befehl hinter ihr und ritt erbarmungslos Richtung Norden. Nur weg von hier.
Erst nachdem das Anwesen außer Sicht war, ließ sie ihr Pferd in langsameren Trab verfallen. Sie spürte die Hitze des erschöpften Tiers unter sich. Dasselbe Tempo wie bei ihrer Herreise konnte sie sich nicht leisten. Die Sonne stach ihr von links in die Augen und sie schirmte sie beständig mit der Hand ab. Als ihr Pferd bereits den Rücken durchhängen ließ und sie zwang, es am Zügel zu führen, hatte die Dunkelheit sie eingeholt.
Der Mondschein war ihr nicht hold. Bei zunehmender Kälte suchte sie sich nahezu blind ihren Weg. Die Geräusche der Nacht taten ihr Übriges, sie das Fürchten zu lehren. Um sie herum knackte das Unterholz, die Heuschrecken zirpten unbeirrt ein Lied und ein ferner Kauz klagte der Nacht sein Leid. Für Mina fühlte es sich an, als kämen die Geräusche immer näher, wurden bedrohlicher und lauter. Als kreise sie eine Gruppe von Vagabunden ein, die nur auf die richtige Distanz warteten, um sich schreiend auf sie zu stürzen. Sie stolperte über eine Wurzel, verlor den Zügel aus der Hand und erwischte das Tier ungeschickt an der Flanke. Wohl ebenso verschreckt wie sie selbst nahm es Reißaus und alles Rufen holte es nicht zurück. Mina suchte einen Baum und klammerte sich an die raue Rinde. Sie sank in die Hocke und kauerte sich zusammen, schützte ihren Kopf mit den Händen. Doch so sehr sie sich bemühte, die Geräusche ließen sich nicht verdrängen.


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt