Kapitel 5-4

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Justina webte emsig an einem Stück Leinenstoff, der die Ergebnisse aller anderen in den Schatten stellen sollte. Herr Webmann war mit ihren Fortschritten im Verbund für Samtstoff zufrieden, sah aber keinen Sinn darin, weiter ohne Seide Zeit hierin zu investieren. Stattdessen war es ihre Aufgabe, feines Leinen herstellen, welches Abnehmer bei gutbürgerlichen Käufern und Schneidern finden könnte. Die viel einfachere Bindung erleichterte ihr die Vorbereitung des Webstuhls und das Ergebnis war fabelhaft.
Webmann prophezeite ihr, dass sie einmal feinsten Brokat für Herzoge und Könige herstellen würde, wenn sie weiter so hart an ihrer Technik feilte. Leider führte seine Begeisterung für ihre Arbeit auch dazu, dass er weiterhin ständig um sie herumwuselte. Adam hingegen kam eher auf die einfacheren Weberinnen zu, spornte sie an und war ihnen nahe. Sie hatte es mit Überstunden versucht, aber Webmann war nicht davon abzubringen, sie bis auf die letzte Sekunde zu überwachen. Sie war sich mittlerweile sicher, dass er sich mehr von ihrer Beziehung erhoffte und darum bereitwillig in die Nacht hineinarbeitete.
Aber heute war er bei einer Versammlung der Zunft eingeladen. Justina ließ sich Zeit mit ihrer Stoffbahn und als die Uhr endlich das Arbeitsende verkündete, klagte sie, dass sie unbedingt ihre Arbeit fertigmachen wollte. Webmann willigte ein, immerhin war Adam noch zugegen. Wenn er nicht gerade außer Haus war, war er meist der Letzte, der das Gebäude verließ. Als könnte er durch seine bloße Anwesenheit für den Aufschwung seines Gewerbes sorgen.
Als die letzten Arbeiterinnen hinaus waren und Webmann seine Kontrollrunde gedreht hatte, hielt sie in ihrem Tun inne. Sie verließ ihren Arbeitsplatz, ging durch die Reihen der Webstühle und gelangte zur Tür, die zu Adams Arbeitsräumen führte.
„Frau Raubmann, macht Ihr wieder Überstunden?", fragte er, nachdem er sie auf ihr Klopfen hin hereingebeten hatte.
„Ihr kennt meinen Namen?"
„Ich kenne alle Namen", erwiderte er mit müdem Lächeln und sah nun vollends von seinen Geschäftsbüchern auf. „Setzt Euch doch." Er wies ihr einen Platz gegenüber von sich.
Justina setzte sich mit einem dankbaren Nicken. Herr Webmann kannte nicht einmal einen Bruchteil ihrer Namen. Dafür hatte er ein schier unendliches Repertoire an Äußerlichkeiten, an denen er sie zu benennen wusste: Die Rothaarige, die Pausbäckige, die mit dem Zopf, die mit den kurzen Haaren ...
„Was bringt Euch um Euren verdienten Feierabend?"
„Ich möchte noch ein Stück fertigmachen."
„Herr Webmann ist bereits außer Haus, falls Ihr seine Hilfe benötigt."
„Eigentlich wollte ich mit Euch sprechen."
„Wenn es keine technische Frage ist", sagte er mit einem Grinsen.
Sie senkte den Blick. „Nein, etwas Privates."
Er breitete die Hände aus. „Sprecht es offen aus."
„Ich benötige einen Vorschuss auf mein Gehalt."
Er nickte langsam. „Es ist wenig, was ich Euch im Moment zu bezahlen vermag."
„Das wollte ich damit nicht andeuten!"
„Aber es entspricht der Wahrheit." Betrübt blätterte er seine Geschäftsbücher durch. „Ich hoffe, mein Versprechen halten zu können, und euch alle nach dem Jahrmarkt besser zu bezahlen."
Justina verzog die Lippen. Diesen Mann hinters Licht zu führen, um sich ihrer Aussichten klar zu werden, erschien ihr nicht richtig. Doch was sollte sie sonst tun? Ihn geradeheraus fragen, ob er es sich vorstellen könnte, in ihr mehr, als nur eine Arbeiterin, zu sehen?
Undenkbar. Nicht, wenn sie ihm wie eine Bettlerin gegenüberstand. Er selbst schien sich zwar auch nicht viel aus Kleidung zu machen, aber damit versuchte er wohl, vor allem seinen Untergebenen näher zu sein. Sie nickte sich zu. „Mein Bruder ist erkrankt und die medizinische Versorgung ist für mich nicht leistbar."
„Der Soldat, der zurzeit bei Euch nächtigt?"
Justina sah ihn erstaunt an. Sie hatte das nur nebenher erwähnt. Entweder er besaß ein unheimlich gutes Gedächtnis, oder aber ihm lag bereits jetzt mehr an ihr, als sie sich zu erhoffen gewagt hatte. „Ja, zurzeit dient er in der Garnison."
„Wie viel benötigt ihr?"
„Zehn Gulden", sagte sie leise. Das war ihr doppelter Monatslohn und Adam hob überrascht beide Brauen.
„Es muss schlimm um ihn stehen." Er machte keine Anstalten zu zögern und griff in eine Kassette, aus der er das Geld abzählte. Ohne Umschweife stapelte er es vor ihr auf.
Justina zögerte, danach zu greifen. Das ging einfach zu leicht. Er nickte ihr aufmunternd zu und sie strich die Summe ein. „Ich werde es ehestmöglich zurückzahlen."
Er winkte ab. „Auf keinen Fall."
„Selbstverständlich, wie könnte ich in Eurer Schuld stehen?"
„Eure Arbeit ist weit mehr als das wert." Er lächelte ihr dermaßen aufmunternd zu, dass sie die Hitze in ihre Wangen steigen spürte. „Außerdem möchte ich nicht, dass Ihr womöglich Hunger leiden müsst, weil Ihr Euch Eure Raten vom Mund weg spart."
Nun war es ihr wirklich peinlich, ihn derartig zu hintergehen. Er selbst mochte zwar größere Rücklagen haben, trotzdem wusste Justina, dass sie kaum Umsätze machten. Alles lief auf den Jahrmarkt hinaus. Bis dahin erhielt er die Manufaktur aus dem eigenen Beutel.
„Wie kann ich Euch nur danken?"
Er stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Indem Ihr Euch schont. Geht nach Hause und kümmert Euch um Euren Bruder. Für morgen seid Ihr freigestellt."
Sie wollte aufbegehren, aber er war schon bei der Tür und hielt sie auf. „Das ist keine fromme Bitte, sondern eine Anweisung. Ihr nützt mir nichts, wenn Ihr Euch unnötig aufreibt."
Mit weiteren Dankesworten verließ sie sein Arbeitszimmer und auch die Manufaktur. Ihr Herz pochte lautstark, als sie in die kühle Abendluft hinaustrat. Am liebsten hätte sie einen Freudensprung gemacht, doch sie musste sich beherrschen, einen klaren Kopf bewahren. Er war ein gutherziger Mann. Sie konnte nicht sicher sein, dass er eine andere nicht ebenso behandeln würde. Aber ihr Talent hatte er wahrgenommen und in seinen Zügen hatte sie Zuneigung gelesen. Wenn sie ihm erst als Ebenbürtige entgegentrat und ihn auf eine persönlichere Art und Weise ansprach, dann mochten ihre Bemühungen Früchte tragen.


Tanz der GefühleWhere stories live. Discover now