Kapitel 8-3

32 5 0
                                    

Die Familien hatten sich im Salon versammelt. Zumindest die männlichen Vertreter. Madame Minnesang wurde hinausgeschickt und eigentlich hätte auch Mina nach draußen gehen sollen, doch sie hatte sich dem verweigert. Stephan lag ausgebreitet auf einem Sofa und hielt sich ein Taschentuch vor die blutende Nase.
Sie hatten ihn gemeinschaftlich auf sein Pferd geladen, ein Schwall Wasser hatte ihn wieder zu sich gebracht. Dabei hatten Martin und Mina kaum ein Wort gewechselt. Sie waren beide dermaßen schockiert von dem Vorfall gewesen, dass es die Wiedersehensfreude kaschiert hatte. Martin war beinahe froh darüber, denn als er Mina ansichtig wurde, hatte sich ein Kloß in seinem Hals gebildet. Als sähe er seine Freundin aus Kindheitstagen zum ersten Mal als erwachsene Frau und wüsste nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte.
Justinas Worte hallten mahnend in seinem Kopf wieder, aber er wusste sie zurückzudrängen. Jetzt galt es, die Situation glimpflich zu überstehen. Mina hatte ihn gebeten, zu sagen, er hätte Stephan für einen Vergewaltiger gehalten. Aber abgesehen davon, dass Stephan nicht unbedingt nach einem streunenden Gauner aussah, hatte er genau gewusst, wen er vor sich hatte. Minas Briefe hatten ihm klargemacht, dass Stephan bereit war, ihre Grenzen zu überschreiten. Und abgesehen vom Hass, den er verspürt hatte, als er sah, dass Mina genötigt wurde, hatte sich eine gehörige Portion Eifersucht in ihm aufgetan, als er sie mit ihm gesehen hatte.
„Wie ist das passiert?!", rief Baron Lanzbruch.
„Dieser Schuft da hat mich von hinten attackiert!" Stephan zeigte anklagend auf Martin. Baron Lanzbruch wollte mit erhobener Faust auf ihn losgehen, aber Martin hielt schützend die Fäuste nach oben, sodass er sich eines Besseren besann.
„Ich erwarte, dass dieser Bengel dafür angemessen bestraft wird!"
Baron Minnesangs trat schlichtend zwischen die Parteien. „Lasst uns doch erst einmal hören, was sich zugetragen hat. Ein Streit unter jungen Männern ist wahrlich keine Seltenheit."
„Ein hinterlistiger Angriff ist ein Verbrechen!", hielt Baron Lanzbruch dagegen.
Minnesang wandte sich Martin zu. „Also, Martin, warum hast du Herrn Lanzbruch angegriffen?"
„Er verging sich an Mina."
„Wir haben uns nur vergnügt!"
„Sie hat geschrien!"
„Aus Lust!"
Martin ballte die Hand zur Faust. Hielte Mina ihm nicht die Hand auf den Arm, so hätte er die zwei älteren Herren zur Seite gestoßen und Stephan zu Brei geschlagen.
„Mina, hat Stephan versucht, dich zu vergewaltigen?"
Sie blinzelte und zögerte mit der Aussprache. „Er hielt um meine Hand an und überraschte mich mit seiner Leidenschaft."
„Also warst du nicht in Gefahr?"
„Ich habe wohl den Eindruck erweckt." Sie sah zu Boden und in Martin kochten widerstrebende Gefühle auf. Wie konnte sie die Sache nur so harmlos beschreiben? Es war doch eindeutig. Dieser Mann hätte ihr nötigenfalls die Beine gewaltsam auseinandergerissen. Sie würde ihre Gründe haben und Martin wollte ihr keine Probleme bereiten.
Baron Minnesang wandte sich an die Lanzbruchs. „Martin ist ein Freund der Familie. Es verwundert mich nicht, dass er seiner Freundin zu Hilfe eilte, als er sie in Not wähnte."
„Dann werft den Knecht hinaus dafür, dass er sich an einem Edelmann vergriff!"
„Er ist von hoher Geburt, wie ihr selbst, mein Herr. Sein Vater übergab mir die Verantwortung für seine Zeit als Knappe."
„Ihr stellt Euch doch nicht etwa auf seine Seite?"
„Ich bin der Meinung, dass zwei junge Männer solche Dinge untereinander auszumachen fähig sind."
„Also billigt ihr Prügeleien an eurem Hof?"
„Selbstverständlich wird er sich angemessen entschuldigen."
Die beiden Barone drehten sich zu Martin, der erstarrte. Stephan sah ihm mit gehässiger Vorfreude entgegen. Erwarteten sie wirklich, dass er vor einem Vergewaltiger zu Kreuze kroch? Einen Fehler zugab, der keiner war? Sein Pflichtgefühl sagte ihm, er solle es einfach hinter sich bringen. Forderte sein Vorgesetzter ihn auf, auf den Feind zu feuern, so fragte er auch nicht nach der Rechtmäßigkeit dessen. Aber das hier war etwas Persönliches. Und Baron Minnesang mochte sein Herr sein, aber Martin konnte ihm nicht den entsprechenden Respekt zollen. Ein guter Herr forderte, aber er gab auch. Baron Minnesang pflegte es, in erster Linie zu fordern und erfüllte seine Verpflichtung, ihn auszubilden, nur mangelhaft.
„Es entspricht der Tugendhaftigkeit eines Ritters, den Schwächeren zu helfen. Ich entschuldige mich nicht dafür, meine Pflicht getan zu haben."
„Das ist unerhört!", begehrte Baron Lanzbruch auf.
„Wie kannst du es wagen, Martin?", setzte Minnesang nach.
„Lasst mich mit ihm reden!", warf Mina ein, worauf der Blick aller sich auf sie richtete. „Martin ist gerade erst angekommen. Er ist erschöpft von seiner Reise und noch wirr von dem Anblick, der sich ihm bot. Gebt uns einen Moment, um die Sache einträchtig zu klären."
Die Lanzbruchs wollten aufbegehren, aber Minas Vater gab ihnen einen Wink und die beiden eilten hinauf auf ihr Zimmer. Martin war dankbar, der Situation entkommen zu sein, auch wenn es nur einen Aufschub bedeutete.
Oben angekommen, schloss Mina die Tür hinter sich und umarmte Martin sprunghaft und intensiver, als sie es ja zuvor getan hatte. Martin fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein und den tiefen Regungen zu seiner Freundin und erwiderte ihre Umarmung. Am liebsten hätte er sie geküsst, doch als sie sich löste und ihm einen Moment in die Augen sah, konnte er sich nicht überwinden. Es war zu neu, dieses Gefühl für sie und er traute ihm nicht. Insbesondere wusste er nicht, wie es um Mina stand. Erst recht, nachdem sie diesen Lump Stephan gerade in Schutz genommen hatte.
„Du musst dich bei ihm entschuldigen."
„Er hat versucht, dich zu vergewaltigen!"
„Sobald er mein Ehemann ist, wird er das Recht dazu haben."
Martin ballte die Hand zur Faust und hätte sie am liebsten gegen die Wand geschlagen. Sie wollte ihn also tatsächlich heiraten. War ihr der zukünftige Reichtum so wichtig? Konnte sie nicht sehen, dass er sie auf der Stelle ehelichen würde? „Warum er?"
„Meine Eltern haben so darüber entschieden."
„Seit wann kümmert dich ihr Wille?"
„Wir sind keine Kinder mehr." Sie ging zum Fenster und sah hinaus.
„Was wäre ich für ein Freund, wenn ich zuließe, dass du mit diesem Scheusal davonziehst?"
Sie drehte sich zu ihm um, ihre Augen schimmerten feucht. „Ein Freund, der die Notwendigkeit über seine Gefühle stellt."
„Das kann ich nicht."
„Tu es für mich."
Er trat an sie heran und ergriff ihre Schultern. Ihr Blick hob sich zu ihm, ihre Lippen waren den seinen so nahe. Doch was wäre er für ein Schuft, wenn er sie derartig überfiel wie der Lump, vor dem er sie gerade erst gerettet hatte. „Ich liebe dich Mina. Es würde mich zerreißen, dich mit ihm gehen zu lassen."
Mit offenem Mund starrte sie ihn Sekunden, gar Minuten an. Nichts mehr beherrschte den Raum, als ihrer beider Atem. Könnte er doch nur in ihren Augen die Erwiderung seiner Liebe lesen! Sie schien überrascht, unfähig, ihre Gefühle einzuordnen. Maria unterbrach ihre Gedankengänge, als sie eintrat. „Herrin, Euer Vater lässt mich fragen, ob Ihr bereits fertig seid?"
Viel eher schien es Martin, als ließe er kontrollieren, dass Martin auch nichts Unrechtes tat. Mina löste sich von ihm. „Ich komme gleich hinunter." Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu und Martin ergriff sie am Arm.
„Mina, bitte gib mir zumindest eine Antwort."
„Ich kann nicht."
Seine Hand glitt von ihrem Arm ab, als sie weiterging und die Tür öffnete. Sie sah über die Schulter, ihre Miene war undeutbar für ihn. „Ich bitte dich als deine Freundin, ihm um Vergebung zu bitten, auch wenn du im Recht bist. Ich will nicht, dass du wegen mir in Verruf gerätst."
Damit ließ sie ihn mit seinen Gefühlen stehen. Hätte er nicht beim Militär gelernt, gegen alle Widerstände seinen geraden Stand einzuhalten, er wäre auf die Knie gefallen. Doch so sackte er nur innerlich wie ein Betrunkener in sich zusammen.


Tanz der GefühleDonde viven las historias. Descúbrelo ahora