Kapitel 4-1

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Liebe Mina,
Es tut mir leid, dass du ohne einen würdigen Gegner im Federball auskommen musst. Ich gelobe dich zu schlagen, sobald ich wieder zurück bin.
Ich hoffe, dass dieser Stephan mit mehr zu begeistern weiß als seinem Körperbau. So sehr ich dir eine erfüllte Hochzeit wünsche, hoffe ich doch, dass du auch auf dein Herz zu hören weißt. Reichtum mag dich eine Weile über fehlende Liebe hinwegtrösten, aber du kannst nicht dein Leben lang mit Reisen verbringen.
Meine Wenigkeit verdingt sich hier gerade als Seelentröster meiner lieben Schwester. Offensichtlich hat sie sich in den Besitzer ihrer Manufaktur verliebt. Eine Liebschaft, die mir so fern und unwirklich erscheint, dass ich mit ihrer Träumerei nur sympathisieren kann.
Wäre es nicht höchst romantisch, wenn sie am Ende doch zusammenkämen? Zumindest sind sie beide von edler Abstammung. Kann Liebe die Distanz von Herrn und Untergebener überbrücken oder bedingt sie gleiches Ansehen? Ich freue mich bereits auf deine Sicht auf diese Dinge.

Martin

Der Besuch der Lanzbruchs erwies sich für Mina als eine Art Feuerprobe all das Wissen, welches sie über Jahre gelernt und geflissentlich ignoriert hatte, zum Einsatz zu bringen. Schon in aller Früh musste sie vor den anderen aufstehen, um wohlfeil gekleidet und frisiert am Frühstückstisch zu erscheinen. Allein den Hausmantel oder ihre Unterkleider tragen durfte sie höchstens zu später Stunde in ihrem eigenen Zimmer.
Sie aß mit der Familie, redete gestelzt, sang, was sich geziemte und ritt wie eine Dame. Zumindest glich Stephan diesen Aufwand mit seinem Verhalten aus. Er hatte sich innerhalb kürzester Zeit in einen wahren Charmeur verwandelt. Oft ritt er tagsüber aus und kam mit einem Strauß Blumen für sie zurück, er forderte eine weitere Arie von ihr, nachdem sie bereits drei gesungen hatte und lobte jegliche Frisur, die ihre Zofe ihr zu flechten pflegte.
Für das Federballspielen konnte sie ihn dennoch nicht gewinnen, da er es als unsinniges Kinderspiel erachtete. Dafür brachte er ihr das Schießen bei. Wenngleich ihr das kein angemessener Ausgleich war und sie den Krach nicht zu schätzen wusste, so stellte es doch eine vorübergehend akzeptable Möglichkeit dar, aus der Etikette auszubrechen. Ihre Mutter kritisierte es aufs Äußerste, dass Mina sich in dieser Männerdisziplin übte, ihr Vater jedoch unterstützte sie, brachte es die beiden jungen Menschen doch zusehends einander näher. Als Stephan ihr dann eines Abends einen Kuss neben dem Stall raubte, war es endgültig um sie geschehen.
Sie redete sich ein, dass sie ihn mit der Zeit schon noch mürbe machen konnte, was ihre eigenen Interessen anging. In Gedanken plante sie ihre zukünftigen Reisen, während sie des Abends versuchte, ihn zum gemeinsamen Singen zu bringen. Doch zunächst blieben ihre Bemühungen erfolglos. Dafür suchte er sie, wenn alle zu Bett waren, manches Mal in ihrem Zimmer auf, was Mina veranlasste, auch in ihren Privaträumen bis tief in die Nacht ihre Überkleidung zu tragen.
Stephan lag neben ihr, den Arm um sie gelegt und küsste sie leidenschaftlich. Mina hatte zuvor nie einen Mann geküsst. Wüsste ihre Mutter davon, dass sie derartige Intimitäten vor der Ehe pflegte, so würde sie sich die Haare raufen. Er führte seine Zunge in ihren Mund ein und sie spielten miteinander. Ein prickelndes Gefühl, ihn in sich zu haben, ihn zu schmecken.
Von derlei Praktiken hatten die Liebesromane, die sie manches Mal zu lesen pflegte, nie gesprochen. Den Erzählungen nach schien es sich allgemein um eine sehr prüde Angelegenheit zu handeln, wenn Mann und Frau zusammenkamen. Die Realität sah ganz anders aus. Zumindest was Stephan anging, konnte er es gar nicht erwarten, ihr die Kleider auszuziehen. Immer wieder erwischte sie ihn dabei, wie er an der Schnürung ihres Mieders spielte. Sie drehte sich demonstrativ auf den Rücken, um ihn daran zu hindern, worauf er sich über sie beugte.
Selbst durch die vielen Lagen ihrer Röcke konnte sie die Erhebung zwischen seinen Beinen fühlen. Sie krallte über seinen Rücken und verbiss sich sanft in seinen Lippen. Doch weiter durfte sie nicht gehen, so sehr es sie drängte. Würden sie diese Schwelle überschreiten, gäbe es kein Zurück mehr. Und etwas in ihrem Hinterkopf warnte sie davor, sich allzu leicht hinzugeben. Ihre Jungfräulichkeit war der größte Wert, den sie ihrem zukünftigen Mann zu schenken hatte. Verbrauchte sie diese vor der Ehe, war sie praktisch wertlos.
Unerwartet dachte sie an Martin und wie er darüber richten würde, was sie gerade taten. So locker ihr Umgang miteinander war, er pflegte es, streng nach den Gepflogenheiten zu leben. Über einen Handkuss hinaus würde er es sicher nicht kommen lassen, bevor er mit einer Frau verheiratet wäre. Das kam Mina einerseits engstirnig, aber auch romantisch vor. Sie stieß Stephan sanft von sich und richtete sich auf, worauf er sie mit geschürzter Lippe beäugte.
„Entschuldigung, ich brauche etwas Luft."
„Habe ich Euch den Atem genommen, Fräulein?"
Sie fuhr sich mit dem Finger über die rauen Lippen. Das ständige Küssen hatte sie wund werden lassen. Manches Mal wünschte sie sich, sie könnten es bei einer angenehmen Unterredung belassen. Aber allzu schnell fanden sie keine Gesprächsthemen und man sagte doch, ein Kuss sagt mehr als tausend Worte. Mit Martin hatte sie immer reden können. Jedes Thema konnten sie durchkauen und sei es auch das tausendste Mal in Folge. Sie fanden immer wieder ein Detail, das sie noch nicht besprochen hatten, philosophierten über die Meinung anderer zu dem Thema oder stellten abstruseste Thesen über Dinge auf, die sie sich nicht erklären konnten.
Eines ihrer Lieblingsthemen war es, warum es Männern so schwerfiel, sich nur einer Frau zu widmen, während die Damen wie treuherzige Hunde ihrem Gatten zu folgen pflegten. Mina hatte selbstverständlich gleich klargestellt, dass sie neben ihrem faden Ehemann eine Vielzahl von Liebschaften unterhalten würde, Martin war sich sicher, dass er – sofern er die Richtige fand – seiner Braut ewig die Treue halte. Zu einem Ergebnis waren sie nicht recht gekommen. Im Endeffekt blieb es an den Frauen hängen ein Kind auszutragen, während die Männer sich bequem von einem Schoß zum nächsten schlafen konnten.
„Alles in Ordnung, Mina?" Stephan starrte sie mit gerunzelter Stirn an.
Sie blinzelte verlegen. „Verzeiht, ich war in Gedanken."
Er verschränkte die Arme. „Wenn es Euch beliebt, gehe ich gerne."
Mina biss sich auf die Unterlippe. Mit jedem Abend wurde Stephan ungeduldiger, was seine Versuche anbelangte, ihre Grenzen zu überschreiten. Sie verstand, dass er sich abgelehnt fühlte, gleichwohl ihm doch klar sein musste, dass es undenkbar war, dass sie sich ihm hingab. Erst recht bevor er förmlich um ihre Hand angehalten hatte und der Vertrag besiegelt war. „Ich musste gerade an unsere Hochzeit denken", sagte sie.
„Vielleicht auch an die direkte Folge dieser?", fragte er zuversichtlich und rückte näher an sie heran. Sie hielt ihn mit sanftem Druck auf Abstand.
„Eher Euren Antrag bevor es so weit ist."
„Ihr erwartet wohl einen Kniefall?"
Mina grinste ihn verschmitzt an. „Selbstverständlich erwarte ich, dass mein Zukünftiger vor mir zu Boden geht."
„Ein altertümlicher Brauch, aber ich will Euch den Spaß gönnen." Er kniete sich vor sie hin und machte ihr einen nicht ernstzunehmenden Antrag, den sie mit einer Schmolllippe beurteilte. Erwartete er wirklich, dass sie solch ein liebloses Schauspiel ernst nahm?
„Mit Sicherheit werdet Ihr Euch förmlicher zu verhalten wissen, wenn unsere Eltern erst den Vertrag ausgearbeitet haben."
Stephan verdrehte die Augen und setzte sich auf einen Stuhl abseits des Betts. „Zumindest deuten die Hinweise darauf hin, dass dem bald so sein wird."
Selbst Mina, die sich für derlei Belange kaum interessierte, war aufgefallen, dass die Verhandlungen zwischen ihren Vätern immer intensiver wurden. Sie griffen der Zukunft bereits vor und malten sich ein Leben in gräfischem Reichtum aus. Mina gefiel der Gedanke. Dabei würde genug für sie abfallen, um ihre Träume vom Reisen zu erfüllen. Nötigenfalls würde sie allein die Welt erkunden, wenn ihr Mann sich bis dahin nicht dafür begeistern ließ.
„Freut Ihr Euch schon auf die Zeremonie?", fragte Mina. „Ich stelle mir mich selbst in einem wunderschönen weißen Kleid vor."
„Ich freue mich darauf, es Euch vom Leib zu reißen."
Sie seufzte leise. Vielleicht würde ihre Mutter sich für derlei Phantasiereisen begeistern lassen. Für Stephan schien die Ehe nur das Zutrittsschloss zu ihrem Schoß zu sein. Aber darüber konnte sie sich schwerlich beklagen. Zumindest begehrte er sie leidenschaftlich und er selbst war attraktiv genug, dass sie sich gut vorstellen konnte, Selbiges zu tun. „In einigen Jahren werden wir vielleicht ebenso in unserem eigenen Salon sitzen. Ich werde die Kinder auf einem gewaltigen Flügel begleiten und sie bezaubern Euch mit ihrem Gesang."
„Ich zöge es vor, wir unterrichteten unsere Sprösslinge in sinnvolleren Tätigkeiten."
„Was gibt es Schöneres als das Singen?"
Er lächelte gequält. „Es ist völlig ausreichend, der Stimme einer Dame im Haus zu lauschen."
„Was schwebt Euch denn als angemessene Abendbetätigung zu?"
„Das Schachspiel zum Beispiel. Ich könnte mir vorstellen, dass ich Euch die Grundzüge beibringe."
Mina kannte dieses Spiel zur Genüge und sie hasste es. Die Männer in ihrem Haus pflegten es gerne, sich auf dem Brett zu duellieren. Dabei saßen sie gar stundenlang mit konzentriertem Blick über der Figurenaufstellung, in der sich nichts zu regen schien. Mina machte ihre Züge in Sekundenschnelle und wurde hibbelig, wenn ihr Vater ein Vielfaches ihrer Zeit benötigte. Einzig Martin hatte die Güte gehabt, beim Schach mit ihr seine Ernsthaftigkeit abzulegen und mehr des Spaßes wegen die Figuren über das Feld zu dirigieren. „Ich empfinde dieses Spiel als etwas zu langatmig."
„Aber genau darin liegt doch der Reiz", antwortete Stephan mit erhobenem Zeigefinger. „Es spiegelt das taktische Ränkespiel zweier Generäle. Im Gefecht würdet Ihr auch nicht einfach Eure Männer blindlings drauflos schicken. Es gilt weise abzuwägen, wie man sie positioniert, um sich einen Vorteil zu verschaffen."
„Geht es bei einem Spiel nicht eher um Spaß?"
„Bei Kleinkindern womöglich."
Mina gähnte gestellt. „Wir sollten langsam zu Bett gehen, damit wir morgen ausgeruht sind. Vielleicht könnt Ihr mich dann zu einer Partie überreden."
„Ich nehme Euch beim Wort."
Mina hielt ihm die Hand für einen Handkuss hin, doch er zog sie an sich heran und zwang ihr einen rauen Kuss auf. „Gute Nacht, Mademoiselle."
Aber Mina konnte noch nicht schlafen. Sie musste ihren täglichen Brief an Martin schreiben. Jetzt mehr denn je. Wie schön es wäre, mit ihm all das persönlich besprechen zu können. Sicher würde er ihre Bedenken zu zerstreuen wissen.
Manchmal war es mühselig, mit ihm etwas zu diskutieren. Er pflegte es, sämtliche Sichtweisen auf die simpelsten Probleme einzubeziehen. Als wäre die Wahl eines Kleides bereits von der Tragweite eines Völkerkriegs. Doch seine Leidenschaft zu diskutieren brachte auch immer Klarheit mit sich und gab ihr das Gefühl, eine wohlüberlegte Entscheidung treffen zu können. Im Moment schien es ihr eher, als würde eine für sie getroffen und sie schwamm einfach mit, wie in einem Beiboot ohne Ruder.


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt