Kapitel 11-2

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Am nächsten Morgen kam schon in aller Frühe eine Zofe in ihr Zimmer, die gänzlich überrascht darüber war, Florentine mit den Mädchen in deren Gemächern anzutreffen. Sie hatten gemeinsam in dem für zwei Erwachsene gedachten Himmelbett geschlafen. Florentine in der Mitte, ihre Töchter seitlich an sie geschmiegt. Sie beschwichtigte die Frau damit, dass sie einander nur vermisst hätten und die Mädchen sich fürchteten, allein zu schlafen.
Da sie von Bocken nicht viel mehr an Information zu erhalten hoffte, fragte sie die Zofe über Johanna aus. Doch entweder war sie von Grund auf wortkarg oder sie hatte etwas zu verbergen. Immer wenn sie auf Johanna ansprach, wechselte sie galant das Thema oder tat, als wisse sie dazu nichts Genaueres. Die Bedienstete half den Kindern beim Anziehen und da Florentine sich um sich selbst kümmerte, war sie auch schnell wieder aus dem Zimmer heraus.
Mit anderen Bediensteten verhielt es sich ähnlich. Florentine tat, als interessiere sie sich für das Verhältnis zwischen Johanna und dem Baron, doch keiner wusste ihr etwas zu sagen. Manche meinten, sie sei sooft weg, man kenne sie kaum, andere stolperten über ihre eigenen Worte, als wären sie verlegen, weil sie sie ansprach. Beim Frühstückstisch legte Alexander ihr mahnend die Hand auf den Schoß. „Es geziemt sich nicht, wie gesellig du dich mit dem Gesinde gibst", raunte er ihr leise zu.
„Zuhause tue ich doch auch nichts anderes."
„Dort kennt man dich – hier ist es einfach nur unpassend."
„Soll ich sie also von oben herab behandeln, so wie alle anderen es zu tun pflegen?"
„Sie werden dafür bezahlt, uns zu bedienen. Du bringst sie in Verlegenheit, wenn du sie mit uns auf eine Stufe setzt."
„Wie kurios, dass du mich nicht ständig in Verlegenheit bringst." Florentine verschränkte die Arme und Alexander sah betroffen drein.
„Schmeckt Euch die Suppe nicht?", erkundigte sich Bocken vom anderen Ende des Tischs.
„Euer Essen ist vorzüglich", antwortete Alexander für Florentine.
„Es muss Euch Unsummen gekostet haben, eine solch begnadete Köchin zu finden", sagte Florentine gleich darauf.
„Ich scheue keine Kosten bei wichtigen Angelegenheiten."
„Eure Baronie scheint sehr ertragreich zu sein."
Bocken hob überrascht eine Braue, wohl darüber, dass Florentine über Geschäftliches redete, doch er hatte sich gut im Griff und nickte lächelnd. „Ich bewirtschafte sie so effizient, wie es mir möglich ist."
„Sie ist ziemlich klein dafür, dass ihr Euch in solchen Reichtum kleiden könnt. Man könnte fast meinen, Euch gehörte eine ganze Grafschaft." Sie machte einen ausholenden Armschwenk.
„Auch aus schlechten Bedingungen heraus vermag man Großes zu bewerkstelligen. Eure Kinder gedeihen prächtig, wenn ich das anmerken darf." Ein leichter Schalk lag in seiner Stimme, der Florentine die Augen verengen ließ.
„Ich pflege es, sie persönlich in ihren Talenten zu fördern."
„So seid Ihr in Eurem Bemühen wohl ähnlich bestrebt, wie ich es bin."
„Wie meint Ihr das?"
Er räusperte sich. „Es ist sicher nicht leicht, Euren Kindern ein ansprechendes Vorbild zu sein, wo ihr doch selbst erst in diese Welt eingetreten seid", sagte er in geflissentlich höflichem Tonfall, dass man die stille Beleidigung kaum heraushörte.
„Habt Ihr Euch nicht selbst in den Adelsstand gekauft, Baron?"
Alexander hüstelte vernehmlich und sah sie beschwörend an.
„Ich habe mir meine Würde hart erarbeitet, Exzellenz."
„Mit Schulden, wie ich hörte."
„Für Euch sicher nichts Unbekanntes."
„Verwendet Ihr das Geld für Johanna zur persönlichen Bereicherung?"
„Florentine! Schluss damit!", sagte Alexander mit derartigem Nachdruck, dass sofortiges Schweigen am Tisch einkehrte. „Ich bitte um Verzeihung, der Herr. Meine Frau fühlt sich die letzten Tage nicht gut."
„Aber nicht doch, Eure Exzellenz", beschwichtigte Bocken, „ich erfreue mich an derartig bürgerlicher Konversation. Es belebt den Alltag." Er lächelte mit übertriebener Freundseligkeit zu Florentine, die ihm einen giftigen Blick schenkte.
Ein Aufseher Bockens bat um Vorsprache und Bocken verließ für einen Moment den Speisesaal.
„Was soll das Florentine? Willst du mich absichtlich in Verlegenheit bringen?"
„Er erwartet doch ohnehin von mir, mich wie eine Bäuerin aufzuführen."
„Du könntest ihn vom Gegenteil überzeugen."
„Wieso? Ich stehe zu dem, was ich bin."
„Weil du nicht mehr im Zirkus arbeitest, sondern eine Gräfin bist!"
„Sagtest du nicht, dass du genau das wolltest? Eine Frau, die nicht wie die anderen ist? Eine, die dir deine Freiheit lässt, zu sein, wer du bist?"
„Ich hatte nie vor den Grafentitel zu erben!"
„Und jetzt ist er dir wichtiger als alles andere?"
Alexander schwieg betroffen, ehe er mit lautem Ausatmen antwortete: „Wir müssen uns dem Schicksal fügen."
„Erwartest du das auch von unseren Kindern?"
„Ich erwarte das in erster Linie von meiner Frau."
„So sei es denn", erwiderte sie grimmig.
Bocken kam wieder herein. „Entschuldigt, eine dringliche Angelegenheit."
„Gewichtige Männer ruft nun mal ständig die Pflicht", sagte Florentine mit kokettem Lächeln.
Der Baron sah sie eine Spur verwundert an, ehe er seinen Anzug richtete. „Fürwahr. Leider muss ich mich nach dem Essen für eine Weile entfernen. Eines der umliegenden Dörfer benötigt meinen Beistand."
„Es wäre uns eine Freude, Euch zu begleiten."
„Aber nicht doch. Derlei Kleinigkeiten bedürfen nicht Eurer Aufmerksamkeit."
„Eure Sorgen sind auch die unsrigen. Ich bestehe darauf", fuhr Florentine fort.
„Nachdem Ihr Euer Land so vortrefflich zu bewirtschaften wisst, kann es nicht schaden, Euch bei Eurem Tun über die Schulter zu blicken. Wie Ihr wisst, habe ich mein Amt kürzlich erst erhalten und praktische Erfahrung von einem Kundigen wie Euch, ist meinem Tun sicher nicht im Wege", sprang ihr Alexander helfend bei.
„Eure Kinder würden sich langweilen."
„Da stimme ich Euch zu", sagte Florentine, „sicher findet sich unter Eurem Personal jemand, der sich ihrer in der Zwischenzeit annehmen wird."
Bocken wusste sich nicht herauszuwinden und akzeptierte den Vorschlag. Florentine erweckte tunlichst den Eindruck, tatsächliches Interesse an seiner Arbeit zu haben. So sehr es ihr zuwider war, gab sie sich elegant, höflich und langweilig, wie Alexander es von ihr zu erwarten schien. Dafür sollten ihre Kinder einfach Kinder sein. Ein Umstand, den sie zu nutzen wusste.
Tina und Caroline würde man kaum mit Misstrauen begegnen. Ihre herzliche Art vereinnahmte die Menschen um sie herum aufs Schnellste. Gleichzeitig waren sie die Töchter der Grafenfamilie und man würde sie mit Samthandschuhen anfassen. Sie instruierte die beiden, auf spielerische Weise das Anwesen zu erkunden, Gerüchte aufzuschnappen und die Augen nach einer Johanna offenzuhalten, ohne den Namen direkt anzusprechen. Die Mädchen empfanden das Ganze als lustvolles Spiel und würden den Auftrag mit kindlicher Neugierde ausführen.
Ein Vierspanner führte die drei Erwachsenen nach Tannweiler, von wo der Aufseher gekommen war. Noch immer arbeiteten dort die Männer des Dorfs im Forst, fällten Bäume, kürzten die Stämme und verfrachteten sie mit Fuhrwerken in Richtung Norden.
„Wir fragten uns bei der Herfahrt, wann die Bauern wohl ihre Felder bestellen, wenn sie so stark mit Frondiensten eingedeckt sind", meinte Florentine, als sie die Holzfäller passierten.
„Das ist deren Sorge. Wenn sie zügig vorankommen, haben sie mehr Zeit für die Felder. Sind sie faul, so ist es ihr eigenes Los, verhungern sie im Winter."
„Denkt Ihr nicht, dass zufriedene Pächter Euch auf lange Sicht mehr bringen?"
„Sie werden stolz sein, einem bedeutenden Baron dienlich zu sein."
Florentine kannte diese Einstellung aus Gesprächen mit führenden Militärs, die manches Mal bei ihnen zu Gast waren. Kaum ein Soldat verspürte den Wunsch, ins Feld zu ziehen und zu sterben. Aber der Ruhm für eine gewonnene Schlacht, der Gedanke, ehrenvoll sein Vaterland zu verteidigen, spornte die Männer an. Doch tot waren sie allemal. Was hatte der einfache Mann vom Ruhm seines Herrn?
Sie hielten vor einem größeren Gehöft, dessen weite Felder von zwei jungen Männern, die kaum dem Kindesalter entwachsen waren, bewirtschaftet wurden. Der Aufseher, welcher neben ihnen hergeritten war, rief die Jungen und forderte, sie sollen ihren Vater herholen.
Kurze Zeit später kam der gedrungene Bauer namens Landmann. Der Baron ging mit ihm nach drinnen, der Aufseher und zwei Knechte des Barons folgten hintendran. Alexander wollte Florentine aufhalten, aber sie beharrte darauf, daran teilzuhaben. Wenn er eine Frau verlangte, die sich wie eine Edelfrau benahm, musste sie auch die Gepflogenheiten kennenlernen.
Im Inneren roch es nach Stroh und Kuhmist. Der Stall war vom Haus nicht gänzlich abgetrennt. Die Behausung war schlicht gehalten mit wenigen Sitzgelegenheiten. Gegessen wurde vorwiegend am Boden, wie es schien. Der Bauer bot den Gästen einige der klobigen Schemel an, aber jedermann bevorzugte es zu stehen.
„Wie ist dein Name, Kerl?", fragte Bocken in barschem Tonfall.
„Jonathan Landmann, gnädiger Herr."
„Wo ist dein Weib?"
„Sie macht Besorgungen in der Stadt."
„Ich hörte, sie ist schon mehrere Tage fort."
„Sie besucht dort auch eine Cousine."
Bocken nickte mehrfach und gab den Knechten einen Wink. Diese zögerten nicht lange, zogen Knüppel aus den Taschen und schlugen auf den Bauern ein. Florentine wollte sich einmischen, doch Alexander hielt sie zurück.
„Ich hörte da etwas anderes. Angeblich kommt hier regelmäßig ein Mädchen vorbei und karrt die Frauen aus dem Dorf."
„Es ist ein weiter Fußweg bis nach Königstein, Herr."
Ein erneuter Wink des Barons, doch kaum erhoben sie die Knüppel, da ergänzte der Bauer seine Aussage schnell: „Verzeiht gnädiger Herr, Ihr habt Recht. Eine Dame bot den Frauen im Dorf Arbeit an."
„Arbeit welcher Form?"
„Spinnen und Weben, so weit ich weiß, mein Herr."
„Wer war die Frau?"
„Ich weiß es nicht, mein Herr."
„Du schickst dein Weib also mit einer Fremden mit?" Bocken hob erneut die Hand, allein die Geste brachte seinen Untergebenen zum Sprechen.
„Verzeiht, es war Madame Justina, die Tochter des Sir Raubmann."
„Ihr schuldet mir Gehorsam! Nicht diesem Weibsbild!"
„Es ist nichts Unrechtes dabei, Geld in der Stadt zu verdienen. Wir werden kaum über den Winter kommen, so sehr beschäftigt uns die Holzfällerei."
„Ihr seid Leibeigene! Eure Arbeitskraft gehört mir! Es ist Euch verboten, Euch von meinem Land zu entfernen!"
„Mit Verlaub, Herr, aber meine Frau lebt noch immer hier. Sie ist nur kurzfristig in der Stadt."
„Ausflüchte! Ich will, dass du dein Weib zurückbeorderst – sofort!"
„Herr, ich weiß nicht einmal, wo genau sie sich befindet."
Bocken wollte schon wütend die Hand erheben, doch auch er musste einsehen, dass alles Schlagen daran nichts ändern würde. „Wann wird diese Frau hier erneut erscheinen?"
Erst zögerte der Bauer mit der Antwort, doch schließlich sagte er seufzend: „Sie kommt jeden Morgen ein paar Stunden nach Sonnenaufgang, Herr."
„Geh wieder an deine Arbeit, Kerl."
Sie verließen das Haus und Bocken gab seinem Aufseher die Anweisung, das Mädchen am nächsten Tag festzusetzen. Er würde sich danach persönlich um sie kümmern. Hierzu ließ er ihm die beiden Knechte da, falls sie sich wehrte. Florentine war das alles zuwider. Doch nachdem Alexander sich nicht einmischte, wollte sie keinen erneuten Vorstoß wagen. Die Rückfahrt verlief schweigend und als sie endlich in ihrem Bett zurück waren, lagen die Kinder bereits in den ihren.
„Ich bin dir dankbar, dass du dich nicht eingemischt hast", sagte Alexander.
„Und ich schockiert, dass du es nicht tatest."
„Es ist Bockens Sache, wie er mit seinen Untergebenen verfährt, solange er nicht das Gesetz bricht."
„Er lässt den Mann prügeln, um ihn zur Aussage zu zwingen."
„Zur Rechtsfindung gibt es schlimmere Mittel, glaub mir."
„Würdest du unsere Pächter ebenso behandeln?"
Alexander fuhr sich über die Augen und gähnte. „Es stellt ein großes Problem dar, wenn Leibeigene ihren Grund verlassen. Das Land liegt brach und verwildert. Der Grundherr verliert an Einkünften."
„Aber das ist Bockens Schuld! Zufriedene Menschen sehen keinen Grund, von dannen zu ziehen."
„Das Leben des Einzelnen darf für uns kein Kümmernis darstellen, Florentine. Auch wenn es bedauerlich ist, wie er seine Pächter behandelt, so kannst du dich nicht vor jeden Bauern stellen, dem ein Übel widerfährt."
„Weil ich etwas Besseres bin?"
Alexander schwieg dazu lange. Schließlich drehte er ihr den Rücken zu und zog die Bettdecke bis über die Schultern. „Darum wollte ich lieber Künstler werden, als mich mit der Herrschaft über Land und Leute zu beschäftigen."
„Weil du von dort aus besser wegsehen kannst?"
„Weil ich glücklich sein wollte. Doch jetzt bin ich gezwungen hinzusehen und meine Frau bohrt in dieser Wunde noch herum."
„Du könntest es ändern."
„Und was dann? Wenn ich mein ganzes Leben lang jedem Bauern von Nord bis Süd ein schönes, gerechtes Leben ermöglicht habe und als alter Greis im Bett liege. Soll ich mir dann einreden, wenigstens hatten andere ein erfülltes Dasein?"
Florentine biss sich auf die Unterlippe. Damit hatte er nicht Unrecht. Wie genoss sie es selbst, unabhängig in ihrem Anwesen zu leben, gutes Essen zu verzehren, sich der Kindererziehung zu widmen, der Kunst und Freizeitbeschäftigungen. Würde sie all das für andere aufgeben? Mussten Tausende leiden, damit Wenige ein gutes Leben führen konnten?


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