Kapitel 10-3

30 5 0
                                    

Der Tag war schon weit fortgeschritten, aber Mina schaffte es nicht aus dem Bett. Weder die bemühten Versuche ihrer Zofe noch das Gezeter ihrer Mutter konnten daran etwas ändern. Zumindest zwang sie niemand zum Aufstehen. Viel zu gewichtig war der Konflikt, der im unteren Geschoss immer wieder aufbrandete, um kurz darauf wieder abzuflauen.
Martins Worte klebten in ihrem Kopf, wie Harz in den Haaren. Hatte er sie schon immer geliebt und es war ihr nur nie aufgefallen? Oder hatte ihr neuer Verehrer seine Leidenschaft geweckt? Sie kam sich töricht vor, ihm von ihrem Liebeskummer in so vielen Briefen berichtet zu haben. Was hatte er sich dabei gedacht? Vielleicht, wie dumm sie war, sich in einen anderen zu verschauen, wo ein Besserer schon Jahre bei ihr war.
Doch was konnte Martin ihr bieten? Er würde sich langsam, aber sicher zu höheren Offiziersgraden hocharbeiten und in vielen Jahren sogar einen angemessenen Sold beziehen. Derweil würden sie in bescheidenen Verhältnissen leben, während sie seine Kinder aufzog. Hielte der Frieden an, wäre es ein beschauliches Dasein, ohne große Aufregungen. Im Kriegsfall würde sie ständig in der Ungewissheit leben, ob ihr Mann zu ihr zurückkehrte. Der Gedanke schmerzte in ihrem Herzen. Selbst ohne ihn als Mann zu lieben, konnte sie sich nicht vorstellen, ihn eines Tages zu verlieren. Stephan hatte einen baldigen Krieg prophezeit. Sich jetzt für Martin zu entscheiden, konnte bedeuten, als verarmte Kriegswitwe zu enden.
Es klopfte an der Tür. „Ich möchte mit niemandem sprechen!"
„Auch nicht mit einem lange verschollenen Familienmitglied?", hörte sie eine männliche Stimme von draußen. Simon kam herein. Er trug noch seine Reitkleidung, das Haar fiel ihm zerzaust über die Stirn und das Glück über seine Heimkehr stand ihm in den Augen.
Mina sprang auf und umarmte stürmisch ihren ältesten Bruder. „Du bist zurück!"
„Wenigstens eine, die das zu schätzen weiß." Er schwang sie rundherum, ehe er sie wieder absetzte. Sie setzte sich aufs Bett und bot ihm einen Platz neben sich an.
„Du musst mir erzählen, wie es im Süden gewesen ist."
„Heiß und feucht", erwiderte er mit einem Grinsen. „Wie ich sehe, dehnst du deine Schlafzeiten nun schon bis zum Mittag aus. Was soll nur aus dir werden? Irgendwann wirst du noch Winterschlaf halten."
„Ich habe keine Lust auf die Stimmung da unten."
„Das kann ich dir nicht verdenken. Was hat Martin denn mit diesem Sohn der Lanzbruchs am Hut?"
„Er hat ihm eine verpasst."
Simon fuhr sich lachend durchs Gesicht. „Das klingt aber gar nicht nach unserem jungen Soldaten. Was hat er denn verbrochen? Einen Mord?"
Mina kaute am Saum ihres Kleids. „Es ging um mich."
„Nun erzähl mir nicht, du bist plötzlich zur Herzensbrecherin geworden."
„Ich verstehe auch nicht, wie ich in so etwas hineingeraten konnte."
„Und wer von den beiden Gentleman hat dein Herz für sich gewonnen?" Er zwickte sie in die Seite.
„Ich weiß es nicht. Immerhin geht es auch um meine Zukunft."
„Mach dir keine Sorgen, Schwester. Solltest du in Armut fallen, reserviere ich dir dein altes Zimmer."
„Unsere Eltern haben die Heirat mit Stephan bereits vereinbart und ich habe seinen Antrag angenommen."
„Du klingst begeistert davon."
„Ihm steht ein gutes Erbe bevor."
„Aber du liebst ihn nicht?"
„Er sieht gut aus."
„Ich dachte, es läge eher an den Männern, auf Äußerlichkeiten zu achten."
Mina presste die Lippen zusammen und sah nach unten. „Wozu rätst du mir?"
Er wedelte abwehrend mit den Händen. „Die Verantwortung lasse ich mir nicht aufbürden!"
„Könntest du zumindest in irgendeiner Form Stellung beziehen?"
Er rieb sich die Nase und sah zur Decke. „Also wenn du so viel reisen willst, wie ich, ist Stephan sicher eine hervorragende Wahl. Du wirst eine Menge Geld benötigen. Wenn du aber einen Mann suchst, der dich anständig behandelt, dann würde meine Wahl eher auf den guten Martin fallen, der dir schon dein Leben lang den Hof macht."
„Tut er das?"
„Ein Mann sucht nicht grundlos die Nähe einer Frau, nur um mit ihr befreundet zu sein."
„Aber er hat nie irgendwelche Andeutungen gemacht."
„Das unterscheidet ihn von deiner anderen Wahl. Er ist zu höflich, sich dir aufzudrängen. Wahrscheinlich wirst du um seine Hand bitten müssen." Simon verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte sich auf das Bett.
„Ich habe Angst, dass Martin jetzt des Hofs verwiesen wird. Er hat doch sonst kein Zuhause."
„So, wie ich das sehe, regeln sie es wie Ehrenmänner. Ein Pistolenduell."
Mina packte ihren Bruder am Revers. „Ist das dein Ernst?"
Er löste sanft ihre Finger. „Nur keine Sorge. Hier möchte niemand wegen einer Kleinigkeit eingesperrt werden. Stephan verlangt Satisfaktion. Dieser Bengel würde Martin nicht einmal treffen, wenn er ihm die Pistole an den Kopf hält und Martin wird den Anstand haben, danebenzuschießen."
Da schätze Simon Stephan falsch ein. Auch wenn er nicht so gut schießen mochte wie Martin, so würde er ihn zumindest treffen. Eine Schussverletzung konnte, so harmlos sie am Anfang aussah, häufig zum Tod führen. „Was, wenn Stephan doch trifft?"
„Mina, glaubst du wirklich, er will auf sein Erbe verzichten und als Geächteter enden?"
Damit rechnete sie zugegebenermaßen nicht. Er mochte zwar aufbrausend sein und sicher Wiedergutmachung wünschen, aber dafür seine Zukunft gefährden? Doch wie stand es um Martin? Er war wütend. Stephan hatte versucht, sie zu vergewaltigen. Als Freund mochte Martin ihn bereits dafür hassen, aber er hatte ihr seine Liebe gestanden. Sie musste ihn unbedingt beschwichtigen.
Sie dankte ihrem Bruder für die Auskünfte und verabschiedete sich für später, um von seinen Näheres über seine Reisen zu erfahren. Flugs kleidete sie sich ein und eilte zum Salon hinunter, wo die Barone den jungen Lanzbruch in die Regeln des Duells einwiesen. Als Mina nach draußen wollte, wurde sie von ihrem Vater aufgehalten.
„Mina, auf ein Wort."
Widerwillig stapfte sie zu den Herren hinein und machte einen höflichen Knicks.
„Es geht das Gerücht um, dass Martin nicht etwa nur zuschlug, weil er um deine Unversehrtheit bangte, sondern weil ihn die Eifersucht trieb."
Mina legte die Arme hinter den Rücken. „Das ist Unsinn, wir sind Freunde."
„Das habe ich unseren Gästen auch gesagt. Trotzdem befürchten sie, du könntest amouröse Gefühle für unseren Knappen hegen."
„Ich habe doch bereits in die Ehe eingewilligt."
„Gefühle sind manchmal stärker als Ehrgefühl, Tochter."
„Wollen Sie Martin einen Strick daraus drehen, dass womöglich eine Liebelei zwischen uns bestehen?"
„Zumindest will ich ihn nicht an unserem Hof wissen, solange du noch unverheiratet bist."
Mina erbleichte. Gleich welchen Ausgang das Duell nehmen würde, Martin würde weggeschickt werden. Was für eine fürchterliche Vorstellung, ihn dafür zu verdammen, dass er ihr zur Hilfe geeilt war.
„Ich sehe Euch schockiert, junges Fräulein", mischte sich Herr Lanzbruch ein. „Wenn ich einen Vorschlag zur Güte einbringen dürfte?"
Baron Minnesang nickte ihm zu, worauf er fortfuhr: „Ich will Euch nicht unnötigerweise eines guten Knechts berauben. Wenn Fräulein Mina uns bei unserer Abreise begleitet, wäre die Sache aus der Welt geschafft."
„Eine vorzügliche Idee", sagte ihr Vater.
Mina presste die Augen zusammen und wünschte sich irgendwo anders hin. Doch schließlich stimmte sie widerstrebend zu, so sehr ihr der Gedanke missfiel, von hier fortzumüssen. Und so sehr sie es hasste, dass ihr die Entscheidung wieder mal abgenommen wurde.
„Darf ich dann hinausgehen?"
„Du suchst doch nicht etwa Martin auf?", fragte ihr Vater mit sichtbarem Missfallen.
„Ich möchte nur sicher sein, dass es bei dem Duell zu keinen Überraschungen kommt."
„Simon hat dir davon erzählt?"
„Wollten Sie es vor mir verheimlichen?"
„Das sind keine Gespräche für Frauen. Aber jetzt, wo du es weißt, geh nur und rede auf deinen Freund im Sinne der Familie und seiner selbst ein."
Mina eilte nach draußen und fand Martin beim Übungsstand vor, wo er von seiner gewohnten Distanz die Zielscheibe durchlöcherte. Seine Treffsicherheit hatte sich während seiner Abwesenheit noch verbessert. Er würde Stephan mit einem Schuss umbringen, wenn er es wollte. „Hast du vor, morgen auch so gut zu schießen?"
„Willst du mich davon abbringen?"
„Simon meinte, es wäre üblich, das so zu händeln."
„Simon ist ein Ehrenmann." Er feuerte einen weiteren Schuss ab und legte die Pistole schließlich beiseite.
„Du etwa nicht?"
„Ich zweifele, dass dein Verlobter einer ist", meinte er mit Verbitterung in der Stimme.
„Diese Entscheidung wurde für mich getroffen."
„Du scheinst dich nicht sonderlich dagegen zu wehren."
„Wieso bist du nicht früher gekommen? Warum erklärst du mir jetzt plötzlich deine Liebe? Ist es dein Ziel, mir meinen Lebensweg zu verbauen?"
Er sah von ihr weg. „Ich wünsche dir Glück, wenn das deinem Lebensziel dienlich ist."
„Martin, versteh mich doch."
„Ich werde ihn nicht erschießen, keine Sorge. Gleich morgen nach dem Duell bin ich wieder zurück in der Garnison und werde dortbleiben."
„Mein Vater lässt dich am Hof bleiben, ich habe mit ihm gesprochen."
„Was soll ich hier noch ohne dich?" Er ließ sich ins Gras fallen und Mina setzte sich neben ihn.
„Ich dachte, wir blieben ewig Freunde."
„Und ich würde ewig unter dir dienen? Da hast du dir aber eine schöne Zukunft für mich ausgemalt."
„Eigentlich hatte ich nie groß ans Heiraten gedacht, bis Stephan plötzlich hier war."
Martin klaubte einen Stein aus der Wiese und warf ihn in die Ferne. „Ich beneide den Kerl um sein Geschick."
Sie legte ihre Hand auf seine und sah ihn von der Seite an. „Die Verbindung, die wir über Jahre aufgebaut haben, ist stärker als diese flüchtige Liebschaft."
„Und doch gehst du mit ihm."
„Was wäre meine Alternative?"
„Ich könnte dich mitnehmen. Ich sorge für dich. Nur ein paar Jahre und ich habe denselben Rang wie dein Bruder inne. Dann kann ich uns eine Wohnung finanzieren."
„Du weißt, ich würde gerne auf Reisen gehen, wie Simon."
„Ich kaufe uns ein Pferd und wir reiten überallhin, wo es dir beliebt."
„Mit den Kindern hinten auf?"
Er lachte leise. „Aber natürlich."
„Ein schöner Traum."
Sie saßen noch eine Weile so da, bis sie zum Abendessen gerufen wurden. Mina aß mit der Familie und Martin mit dem Gesinde, so wie es schon immer gewesen war. Und wie es wohl auch immer sein würde. Nur weil sie zu egoistisch war zu springen.


Tanz der GefühleDove le storie prendono vita. Scoprilo ora