Kapitel 5-3

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Die Situation war ihr derartig unangenehm, wie kaum etwas je zuvor. Sie hatte den Weg nicht mehr gefunden, war bei irgendeiner Abzweigung in der Nacht wohl falsch gegangen. Wie eine Bettlerin hatte sie sich dem Reiter entgegengeworfen und gehofft, er möge sich ihrer erbarmen. Hätte sie gewusst, dass er nur der Kundschafter der Delegation des neuen Grafen von Arling war, so hätte sie doch lieber selbst den Weg gefunden, als sich vor dem hohen Besuch dermaßen lächerlich zu machen.
Zum Glück war die Grafenfamilie äußerst gastfreundlich und schien überhaupt keinen Anstoß an ihrem Verhalten zu nehmen. Der Graf wirkte jung für die Würde seines Amts, doch er strahlte eine kühne Autorität aus, die ihr gefiel. Er schien weniger wie ein gestrenger Herrscher, denn vielmehr einem Mann voller Selbstbewusstsein, der die Menschen mit seiner Persönlichkeit in den Bann zog. Auch die Gräfin überraschte Mina aufs Äußerste. Sie war in ein tailliertes blaues Samtkleid gekleidet, das ihre Körperform unterstrich. Die Haare hatte sie zu einem einfachen Zopf geflochten. Außer leichtem Schmuck trug sie weder viel Tand noch Puder oder dergleichen.
Im Gegensatz zu anderen Damen verlieh ihre Kleidung ihr nicht die nötige Würde, sondern unterstrich sie nur. Sie war weit weniger steif als ihre Mutter, hatte das Herz eher auf der Zunge, so wie Martin, wenn er mit ihr allein sprach. Ihre Kinder folgten ihrem Beispiel. Sie waren aufgeweckte, interessante Persönlichkeiten, die sie sogleich ins Herz schloss. Sie erinnerten viel mehr an die Kinder von einfachen Leuten, als solche von feinen Herrschaften. Eine angenehme Abwechslung.
Die Fahrt verbrachten sie mit kurzweiligem Geplauder. Als sie das Haus ihrer Eltern erreichten, wuselten die Bewohner wie Fliegen umher, kaum dass sie des gräfischen Wappens gewahr wurden. Die Dienerschaft stellte sich mitsamt den Hausherren in einem Spalier auf und sie staunten nicht schlecht, als Mina neben den hohen Herrschaften aus der Kutsche stieg.
„Hochverehrte Exzellenz, was für eine Freude, Euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen", sagte ihr Vater.
„Die Freude liegt ganz bei uns", antwortete Alexander. „Unterwegs haben wir Eure Tochter angetroffen. Ich hoffe, ihr ward nicht unnötig in Sorge um sie."
„Aber keinesfalls." Er besah sich ihre mitgenommenen Kleider mir argwöhnischem Blick. „Wie kommt es, dass du bereits zurück bist – noch dazu ohne dein Pferd und in solchem Zustand?" Sein Lächeln gefror zu einer Maske und Mina schwante Übles. Ihr Vater war nie bekannt dafür gewesen, jähzornig zu reagieren, hatte sich an ihr Temperament gewöhnt und sie meistens einfach tun lassen. Aber heute wirkte er auf sie, als müsse er sich beherrschen, sie nicht anzuschreien.
„Mein Besuch bei den Lanzbruchs war nur von kurzer Dauer", sagte sie kleinlaut und spürte dabei regelrecht die fragenden Blicke der Grafenfamilie.
„So tretet doch ein, die Dienerschaft wird Euch sofort ein Zimmer weisen, Herrschaften. Ich werde derweil noch mit meiner Tochter sprechen." Baron Minnesang machte eine einladende Geste und sprach mit leiser, dafür bedrohlich klingender Stimme zu Mina: „Ein Eilbote kam heute Morgen hier angeritten und meinte, du wärest ohne einen Abschied geflohen."
Mina sah zu Boden und hatte Lust auf diesen einzutreten. „Ich fühlte mich nicht nach Höflichkeiten."
„Dein Verhalten hat Rückwirkungen auf die ganze Familie! Bist du dir bewusst, von welcher Wichtigkeit die Beziehungen zu den anderen Baronien zukünftig für uns sind?"
„Wichtig genug, um mich an einen Hurenbock zu verheiraten!"
„Wie kannst du ..." Er hob die Hand zu einer Ohrfeige, doch hatte nicht bemerkt, dass Florentine mit besorgtem Blick hinter ihm auf Mina gewartet hatte. Bevor er zulangen konnte, ergriff sie sein Handgelenk und zog ihn zurück, sodass er beinahe zu Boden gegangen wäre. Seit seiner Ritterschaft waren zwar schon viele Jahre vergangen, aber Mina hätte nicht erwartet, dass er so leicht zu überwältigen war.
„Was veranlasst Euch, Hand an Eure Tochter zu legen, nachdem sie Wind und Wetter ausgesetzt war und Ruhe braucht? Wenn Ihr jemanden ohrfeigen wollt, dann Euch selbst, der ihr sie allein und schutzlos ausreiten ließet!"
Mina war, als gefriere die ganze Situation und bewege sich in quälender Langsamkeit. Der Graf von Arling, der gerade im Begriff war, seine Kinder nach drinnen zu führen, drehte sich um. Er hatte den Mund erstaunt aufgerissen, ungläubig darüber, was er da sah. Die Dienerschaft war mit der Situation sichtlich überfordert. Sicherlich sahen sie keinen Grund einzuschreiten, nachdem kein Mann an ihren Herrn Hand anlegte; gleichwohl mussten sie krampfhaft nach einer Lösung der Eskalation suchen. Mina sah, wie ihr Vater die freie Hand zur Faust ballte und schließlich wieder löste, als er sich wohl der Stellung der Gräfin bewusst wurde. Sie entließ seinen Arm ihrem Griff, nachdem er sich entspannt hatte.
Der Graf von Arling trat von hinten an seine Frau heran und setzte zu einem heftigen Disput an, aber Baron Minnesang kam ihm überraschend zuvor. „Ihr habt Recht, Eure Exzellenz. Ich entschuldige mich dafür." Er strich Mina über das Haar und sie las in seinen Augen mehr als eine erzwungene Entschuldigung, viel eher einen Anflug von Reue.
„Es sei Euch vergeben", antwortete Florentine, „ich verstehe, dass einen starke Gefühle manches Mal zu entgleiten drohen. Doch dürfen wir nie vergessen, die Liebe zu unseren Kindern über alles andere zu stellen."
Der Baron neigte das Haupt vor dem Grafen. „Ich beglückwünsche Euch zu der Wahl Eurer Gemahlin, Exzellenz. Ihre Weisheit überstrahlt noch ihre Grafenwürde."
Der Graf schien nicht recht zu begreifen, was da gerade passiert war. Damit war er auch nicht allein. Schließlich neigte er sachte den Kopf. „Ich danke Euch für Eure Worte." Mit einem verunsicherten Seitenblick zu Florentine fügte er hinzu: „Manches Mal vergesse ich, mit welchem Glück ich doch gesegnet bin."
Schließlich gingen sie alle nach drinnen. Die Gäste bezogen ihre Zimmer und zum Abendessen kamen sie gut gelaunt zusammen. Die ältere der beiden Grafentöchter zeigte sich beim Essen auffällig leise, als wäre sie krank und ihre Lebensfreude aus ihr gesogen. Erst als Mina ihren abendlichen Gesang anstimmte und Tina einlud, ein Lied mit ihr zu singen, zeigte sie wieder ihr quicklebendiges Gemüt.
Sie befragte sie über die Lieder, die sie kannte, worauf sie zögernd einige Titel wiedergab, die ganz und gar nicht der höfischen Kultur entsprachen. Es waren einfache Volkslieder, die eher unter Bauern zum Tanz geträllert wurden als in einer edlen Runde. Erst zögerte Mina. Im privaten Kreis mochte es ihr Vater gestatten, dass sie sich abseits der Etikette bewegte, aber in Gegenwart des Grafen. Sie tat es einfach und wählte eines der Lieder, die Tina ihr vorschlug. Erst erblasste der Baron ob ihrer Wahl, aber als die Gräfin dazu klatschte, stieg er in den Applaus mit ein. Mit höflichen Verabschiedungen zogen sich schließlich alle in ihre Zimmer zurück.
Mina warf ihre Kleider von sich. Nun wieder allein, überkam sie die Frustration über das Erlebte. Wie hatte sie sich von Stephan nur so blenden lassen können? Andererseits, wie dumm von ihr, überhaupt anzunehmen, er empfände etwas für sie, dass ihn zu Treue veranlasste. War nicht sie es gewesen, die ihm geradezu hinterhergelaufen war? Seine Küsse waren nur die Reaktion auf ihre Lust gewesen. Er hatte in ihr eine schnelle Gelegenheit auf Beischlaf gesehen und sich ihr nur darum gewidmet. Möglicherweise auch aus der Verpflichtung heraus, da er sie ehelichen sollte. Doch vielleicht war diese Verbindung Geschichte, wenn die Hemmwehrs sich als besserer Bündnispartner erwiesen und Cäcilia ihn in ihrem Netz gefangen hatte.
Es klopfte höflich an der Tür und Mina, die mit ihrer Zofe rechnete, rief, sie möge weggehen. Sie hatte keine Lust auf eine Predigt über Benimmregeln.
„Dürfte ich um ein kurzes Gespräch bitten?", erschall eine Stimme, die definitiv nicht ihrer Zofe gehörte.
„Oh natürlich, kommt doch herein", sagte sie vorschnell, ehe ihr klar wurde, dass sie nicht mehr als ihre Unterkleider trug. Bevor sie ihre Aussage revidieren konnte, war Florentine schon eingetreten und Mina zog die Decke über ihren Körper.
„Verzeiht mir, störte ich Euren Schlaf?"
Mina schüttelte hastig den Kopf. „Ich bin nur nicht dem Anlass entsprechend gekleidet."
Die Gräfin lachte glockenhell und schloss die Tür. „Da wir unter Frauen sind, sollte es genügen."
Ihre entwaffnende Art ließ Mina die Decke herunterfallen lassen. Die Gräfin deutete auf einen Stuhl neben dem Bett und Mina nickte einladend. Mit übereinandergeschlagenen Beinen und gefalteten Händen setzte sich die Gräfin zu ihr und sah sie an. Ihr Blick fühlte sich an, als dringe er bis tief in ihr Innerstes, auch wenn er völlig unverbindlich wirkte.
„Was war der wirkliche Grund für deinen eiligen Ausritt?"
Mina biss sich auf die Unterlippe. Natürlich hatte man sie durchschaut, aber sie hatte erwartet, sie würde es auf sich beruhen lassen. Würde sie ihr nun eine Strafpredigt halten, dass sie sie belogen hatte? „Es tut mir leid, wenn ich nicht völlig ehrlich war."
„Niemand ist immer ehrlich – das wäre ja fürchterlich langweilig", antwortete sie unbekümmert.
„Aber warum ...?"
„Reine Neugierde."
Mina musste unwillkürlich lachen. Diese Frau war wirklich ganz anders, als man es erwarten würde. Sie ließ Mina den Standesunterschied zwischen ihnen völlig vergessen. Beinahe hätte sie sie geduzt, als spräche sie mit Martin. „Es ist mir etwas unangenehm."
„Dann geht es wohl um einen Mann."
„Woher wisst ihr das?"
„Alle unangenehmen Dinge beginnen mit einem Mann."
Mina blinzelte verdutzt. „Ich folgte einem Mann namens Stephan, um mich zu vergewissern, dass er mir treu ist."
„Warum zweifeltet Ihr daran?"
„Weil er eine Familie besuchte, von deren Tochter ich hörte, sie wäre ..."
„... ein Flittchen?", fragte die Gräfin mit einem schalkhaften Grinsen.
Mina musste an sich halten, um nicht zu kichern. „Genau das."
„Und du liebst ihn?"
„Sonst würde ich ihm doch nicht hinterher reisen."
„Warum?"
„Warum ich ihn liebe?" Die Frage erschien ihr ungewöhnlich für eine Frau, der die Thematik nicht unbekannt sein konnte. Sie musste doch aus eigener Erfahrung wissen, weshalb man jemanden liebte. Florentine gab ihr keine Antwort, sah sie nur abwartend an, worauf Mina die Luft ausstieß. „Er ist hübsch und wohlhabend. Ich denke, er ist eine gute Partie, um meine Pläne zu verwirklichen."
„Und das ist alles?"
„Was sollte da mehr sein?"
„Was verbindet euch? Was sind eure gemeinsamen Interessen?"
Die Frage ging tiefer, als Mina sich eingestehen wollte. Nicht zuletzt, weil sie über dieselben Dinge nachgedacht und sie beiseitegeschoben hatte. „Meine Eltern teilen auch keine besonderen Interessen."
„Darf ich ehrlich zu dir sprechen?"
Mina nickte.
„Deine Eltern sind ein formidables Paar. Sie wirken sehr bemüht um ihre Ehe."
Das Kompliment klang nicht echt und Mina hatte das Gefühl, ihre Eltern verteidigen zu müssen. Natürlich sah sie in ihnen auch nicht die große Liebesbeziehung, aber ihre Ehe funktionierte. Sie fungierten gemeinschaftlich als Familie, die gemeinsame Ziele verfolgte. „Eure Zankereien wirken auch sehr bemüht", sagte sie schneller, als sie die Worte überdenken konnte. Die beiden hatten versucht, es zu verdecken hatten, aber die Spannung zwischen Graf und Gräfin war doch aufgefallen. Sie erwartete eine entrüstete Reaktion über diesen Affront.
Die Gräfin lächelte nur milde. „Das sind sie wahrlich."
„Wollt Ihr sagen, Ihr genießt es zu streiten?"
„Natürlich nicht. Aber es ist mir lieber, ich streite leidenschaftlich und drücke meine Gefühle aus, als sie beharrlich auszuschweigen."
„Ich denke nicht, dass Stephan Interesse hätte, die Sache auszudiskutieren."
„Wenn er sich wirklich für dich und dein Befinden interessiert, dann schon."
„Darf ich fragen, ob Ihr glücklich seid, Eure Exzellenz?"
Florentine lachte verhalten über ihre Höflichkeit. „Das bin ich, Liebes. Mehr, als es im Moment den Anschein zu machen scheint."
„Aber woher wusstet Ihr, dass Ihr ihn liebt und er Euch?"
„Wir waren bereit, Opfer füreinander zu bringen, und was vielleicht wichtiger war, er war ein guter Freund."
„Also sollte ich meinen Freund ehelichen?" Mina musste unwillkürlich an Martin denken und runzelte die Stirn. Darüber hatte sie nie auch nur im Ansatz nachgedacht. Mit ihm konnte sie leidenschaftlich philosophieren, diskutieren und Spaß haben – aber ihn lieben? Das Bett mit ihm teilen?
„Strahlender Sonnenschein mag dich im ersten Moment blenden, doch du wirst dich daran gewöhnen. Ein anregendes Buch beschäftigt dich ewig."
„Ihr klingt, wie ein Philosoph."
Die Gräfin tippte sie an die Stirn. „Es ist naheliegend, den zu wählen, für den sich das Auge entscheidet. Aber du wirst dich an ihm sattsehen und dich nach dem Nächsten sehnen. Jemand, der dich aber wirklich akzeptiert und annimmt, wie du bist; jemand, mit dem du deine Gefühle und Wünsche teilst, der wird dir ein Leben lang ein treuer Begleiter bleiben."
„Aber geht es bei der Ehe nicht auch darum, den Beischlaf zu praktizieren?" Die Frage ließ sie erröten. Florentine war so offen zu ihr, dass sie die Gelegenheit ergreifen musste, um auch peinliche Fragen zu erörtern.
„Mein Bruder könnte dir darüber sicher Lehrreicheres berichten. Er verglich sich gerne mit einem Pflug, der grob jeden Boden pflügte. Es mag berauschend sein, die ersten Male. Doch ein Mann, der dich wirklich zu schätzen weiß, wird nicht über dich hinweggaloppieren, wie ein Kriegspferd. Viel eher wird er dich sanft berühren, deine Gefühle studieren und dir auf intensivere Weise Lust bescheren."
„Woher wollt Ihr das wissen? Hattet Ihr mehr als einen Liebhaber?"
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, aber ich sah die Frauen, die mein Bruder begattete. Wie schnaufende Pferde, die halb zu Tode geritten wurden, krochen sie aus seinem Lager. Derartig fühlte ich mich nie, gleichwohl es ein erschöpfender Akt ist."
„Also sollte ich Stephan in den Wind schlagen?"
Sie hob die Schultern. „Ich kenne ihn nicht und ich bin auch keine Prophetin, die dir den Weg zu weisen vermag."
„Was würdet Ihr an meiner Stelle tun?"
„Möglicherweise das Falsche."
Mina verschränkte die Arme. „Und woher soll ich das Falsche erkennen?"
„Das kannst du nicht. Es gibt kein richtig oder falsch in der Liebe. Was den einen erfüllen mag, stößt den anderen ab. Eine Entscheidung, die dir zuerst richtig erscheint, wird sich später als falsch herausstellen und umgekehrt."
„Aber wie habt Ihr Euch dann entschieden?"
Die Gräfin sinnierte einen Moment, ehe sie den Kopf schräg legte. „Ich folgte meinem Gefühl. Dem Weg, der mir als glückbringend erschien. Und ich hatte jemanden, mit dem ich darüber reden konnte."
„Den Grafen?"
Florentine nickte. „Einen wahren Freund."


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