Kapitel 9

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"Still jetzt", kommandierte Gandalf noch bevor sie mehr als zehn Schritte gemacht hatten. "Es ist eine Vier-Tages-Reise zur anderen Seite. Lasst uns hoffen, dass unsere Anwesenheit unbemerkt bleibt."
Das war auch genau der Grund, warum es Maerwyn äußerst leichtfiel, den Mund zu halten und Legolas nicht zu schimpfen, der noch immer ihre Hand hielt und sie nicht mehr als einen Schritt - ihre Schrittlänge, die um einiges kürzer war als seine - von seiner Seite weichen ließ.
Tatsächlich hatte sie jedoch auch nicht das Bedürfnis, seine Hand loszulassen oder vor ihm Reißaus zunehmen. Seine Präsenz gab ihr eine Sicherheit, die sie nur von zuhause gekannt hatte. Deshalb erlaubte sie sich, sich die Zeit zu nehmen, über Legolas und sie nachzudenken.
In den Jahren, die sie mit Aragorn in der Wildnis zugebracht hatte, hatten sie einander nicht oft gesehen - zumindest gemessen an einem Jahr. Wenn sie zusammen gereist waren, dann waren es mehrere Wochen gewesen, doch sie hatte nie dieses Gefühl von Wärme und Geborgenheit gespürt.
Bestimmt liegt es einfach nur daran, dass wir uns in unmittelbarer Gefahr befinden, beschloss sie, als ihr die ganze Denkerei zu viel wurde. Eigentlich hatte sie gar nicht darüber nachdenken wollen, was sie für den Elbenprinzen empfand. Aber es war schwierig, sich nicht darüber Gedanken zu machen, wenn er direkt neben ihr war, ihre Hand hielt oder sie in Gefahrensituationen schützte.
Und wenn sie so darüber nachdachte, hatte er sie auf dieser Reise in mehreren Situationen geschützt: Als die Krähen kamen, auf dem Caradhras, vor Moria und jetzt tat er es schon wieder - wenn auch indirekt.
Ja, in dieser Situation war es sehr schwer, nichts zu fühlen.
Wahrscheinlich ist es, dass er der Einzige ist, der mich vor diesen Gefahren zu schützen sucht, änderte sie dann ihre Entscheidung. Ganz genau.
Sie dachte zurück an alle, die sie in ihrem bisherigen Leben beschützt hatten. Ihr Vater und ihr Bruder standen an erster Stelle, wie auch Éomer, ihr Vetter. Dann war da Aragorn, aber er war wie ein großer Bruder für sie, Herr Elrond eine Vaterfigur. Königin Naira hatte sich während des Ringrates für sie ausgesprochen - Mutterfigur. Mit Ilmare hatte sie sich nie in gefährliche Situationen gewagt - weil die elleth nicht wollte - aber sie war ihre beste Freundin, vielleicht sogar wie eine Schwester. Selbiges galt für Éowyn, ihre Base.
Und dann war da Prinz Legolas, der sich in keine dieser Kategorien einfügen ließ. Das fuchste sie. Bisher hatte sie immer jede Person in eine Kategorie einteilen können, meistens Mag ich, Kann ich mit Gleichmut ertragen, Kann ich nicht ausstehen und Soll froh sein, dass ich ein Image zu schützen habe. Mag ich ließ sich dann noch einmal in Familie, Freunde, beste Freunde und Familienähnliche - Vater- und Mutterfiguren und nicht blutsverwandte ältere Brüder - unterteilen. Und selbst dort saßen immer alle eindeutig mindestens in einer Kategorie. Legolas hüpfte zwischen mehreren Kategorien hin und her. Nie blieb er in einer. Mal war er ein Freund, mal ein Familienähnlicher, mal eine Kategorie, die nicht existierte, weil sie sie nicht benennen konnte. Nicht mal in der Oberkategorie Mag ich saß er immer. Manchmal - zuletzt auf dem Caradhras - huschte er flink in Soll froh sein, dass ich ein Image zu schützen habe. Aber im Gegensatz zu anderen, die sie aus dieser Kategorie nie wieder herausnahm, setzte sie ihn bei nächster Gelegenheit wieder in Mag ich. Oh, wie sehr es sie ärgerte, dass sie ihn nie eindeutig zuordnen konnte.
"Woran denkst du?", flüsterte der Elb ihr zu.
Sie sah ihn an.
"Daran, dass du mich unglaublich wütend machst, weil du in keine meiner Kategorien passt und weil du in mir Gefühle hervorrufst, die ich nicht einordnen kann."
Legolas' Augen weiteten sich, doch sie bemerkte es nicht.
"Daran, dass ich so schnell wie möglich aus dieser furchtbaren Dunkelheit raus möchte", antwortete sie.
Der Elb erwiderte nichts, bis- "Was war das mit den Kategorien und den Gefühlen?"
Maerwyn lief knallrot an. Das hatte sie nicht laut sagen wollen.
"Gar nichts", behauptete sie mit unnatürlich hoher Stimme, machte sich von ihm los und huschte zu Aragorn.

Sie gingen über schmale Brücken und auf fast noch schmaleren Wegen an Wänden, die aus dem Felsen gehauen worden waren. Sie waren zu schmal, als dass man nebeneinander hätte laufen können.
Trotzdem wünschte Maerwyn sich, sie wäre bei Legolas geblieben. Natürlich wusste sie auch bei Aragorn, dass er sie nicht fallen lassen würde, aber es war nicht dasselbe, das Gefühl von Sicherheit war nicht dasselbe.
"Der Reichtum Morias lag nicht in Gold oder Juwelen", erklärte Gandalf, als sie an einen Ort kamen, an dem lange Leitern aus Holz von weiter unten an ihren Weg gelehnt waren und Ketten von der Decke hingen, "sondern in Mithril."
Der Zauberer hielt seinen Stab über den Rand des Weges und gab den Blick auf eine riesige Arbeitsstätte frei.
Maerwyn schaute nur einmal kurz über den Rand, dann wurde ihr fast schlecht und die Angst zu fallen übermannte sie. Sie drückte sich fest an die Wand. Ihre Atmung wurde schneller. Wie aus dem Nichts, war wieder Legolas neben ihr. Die Angst verschwand wie von Zauberhand.
Aragorn grinste in sich hinein.
"Bilbo hatte ein Hemd aus Mithrilringen, das Thorin ihm gab", erzählte Gandalf im Weitergehen.
"Das war ein königliches Geschenk", bemerkte Gimli beeindruckt.
War auch das Mindeste, was er ihm hatte geben können nach allem, was der Arme seinetwegen durchmachen musste. 
Maerwyn sagte es nicht laut, aber sie sah Legolas an, dass er das Gleiche gedacht hatte. Den Teil, den er nicht miterlebt hatte, hatte Naira ihm haarklein erzählt und obwohl er und Thorin jetzt gut miteinander auskamen, so war er noch immer ein wenig ungehalten, wenn er daran dachte, was der Zwergenkönig fabriziert hatte.
"Ich habe es ihm nie gesagt", gab Gandalf zu, "aber sein Wert war größer als der des Auenlandes."

Von Maerwyn und Lumiel (Der Herr der Ringe Fan-Fiction)Where stories live. Discover now