Kapitel 28

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Lumiel und Legolas schlenderten über die grünen Felder und Wiesen vor Edoras' Toren.
Der Saum der Prinzessin grünen Kleides war bereits nass, doch sie kümmerte sich nicht darum. Ihr Fokus galt Legolas und der Frage, wie sie jetzt am besten ein Gespräch anfangen könnte.
Sie suchte nach Worten, fand jedoch keine. Sie wusste, was sie sagen wollte, jedoch nicht, wie sie es aussprechen sollte.
So war es dann der Elbenprinz, der die Stille brach.
"Sprich", forderte er. "Was willst du mir sagen, dass wir dafür die Stadt verlassen mussten?"
Lumiel zögerte noch immer. Am Ende entschied sie sich, ihre Gedanken so zu vokalisieren, wie sie ihr in den Sinn kamen.
"Die Geschichte mit Sauron hat mir Angst gemacht", gab sie zu.
Legolas sah sie überrascht an. Er kannte sie, wusste, dass sie Ängste hatte, doch noch nie hatte sie zugegeben, dass eine Unterhaltung ihr Angst eingejagt hatte.
Sie sprach weiter, bevor sie den Mut verlor: "Wir wissen beide, was es bedeutet, wenn Sauron sagt, dass er mich will, um die Drachen wieder aufleben zu lassen, sie ins Leben zurückholen will, um sie für seine Zwecke einzusetzen."
Sie blieb stehen und starrte in die Ferne, nach Osten, Richtung Mordor.
"Früher oder später...", sie nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie weitersprach: "Durch mich werden meine Kinder die Gene eines Drachen bekommen. Sie werden Kräfte ausbilden und früher oder später wird es eines geben, das wie meine Mutter ist. Und selbst, wenn nicht, wird er wissen, wie er die Fähigkeiten der anderen für sich selbst nutzen kann."
"So funktioniert das nicht", unterbrach Legolas sie.
"Was?"
Er sah sie an. Ihm gefiel nicht, dass sie sprach, als sei ihre Zukunft schon entschieden; als wäre es unausweichlich, dass sie Saurons Brutmaschine für Drachen werden würde.
"Ich sagte, so funktioniert das nicht", wiederholte er.
Auf ihren verständnislosen Blick hin erklärte er: "Deine Fähigkeiten. Sie sind nicht zufällig. Sie sind vorbestimmt, sei das wegen deines Charakters oder, weil die Welt sie in diesem Moment braucht. Schon als du klein warst, hast du dich ständig verletzt und wir sind im Krieg, da werden Heiler immer gebraucht."
"Zufall."
Lumiel war nicht überzeugt, also sprach er weiter: "Dein Bruder, Frerin, als Thronerbe-"
"Er wird den Thron nicht erben", unterbrach Lumiel ihn.
Legolas' Blick warf ihr einen halb genervten Blick zu.
"Doch, das wird er", widersprach er. "Thorin ist nicht unsterblich."
"Aber Naira ist das", hielt Lumiel dagegen.
"Nein..."
Legolas sah in die Ferne.
"Nein, das ist sie nicht. Nicht mehr."
"Wie meinst du das?", hakte sie nach. "Es ist ein schlecht gehütetes Geheimnis, dass Naira ihre Unsterblichkeit aufgeben wollte, Thorin sie jedoch davon abhielt, damit ihre Kinder jederzeit auf ihre Hilfe vertrauen können."
Legolas seufzte.
"Naira bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich dir die Wahrheit sage", murmelte er vor sich hin.
"Welche Wahrheit?", forderte Lumiel. "Was weißt du?"
"So ziemlich alles, was Naira vor Thorin geheim zu halten versucht. So auch den Fakt, dass sie Erebor nicht ohne ihn regieren will und ihre Unsterblichkeit aufgegeben hat, sobald Frerin das Alter erreicht hatte, wo sie ihn ohne Bedenken selbst regieren lassen konnte."
Lumiel konnte nicht glauben, was sie hörte.
"Und Thorin weiß nichts davon?"
Legolas schnaubte.
"Ich glaube schon, dass er es weiß oder zumindest vermutet er es. Er und Naira haben eine...durchwachsene Geschichte mit Geheimnissen, vor allem denen auf ihrer Seite. Sie wird sich hüten, noch eins vor ihm zu haben."
Lumiel kaute auf ihrer Unterlippe und schaute wieder in die Ferne. Wie absolut faszinierend diese Informationen doch waren.
"Wie dem auch sei", unterbrach Legolas ihre Gedanken. "Frerin, als Thronerbe, hat die Gabe bekommen, sich bei allen Gehör verschaffen zu können. Wenn er spricht, herrscht Stille und jeder hört ihm zu, sogar die, die ihm kein Gehör schenken wollen."
Sehr nützlich, das musste Lumiel ihm lassen. Als Mitglied der königlichen Familie, und vor allem als Thronerbe, war man immer von Personen umgeben, die einen nicht in der Stellung sehen wollten. Das hatte sie bei Théodred beobachtet und in Büchern gelesen. Insbesondere abgesetzte Könige, Onkel, Geschwister und Mitglieder des Rates des vorherigen Herrschers konnten dem neuen Regenten sehr gefährlich werden.
"Könnte er eine ganze Schlacht zum Stillstand bringen, wenn er den Mund aufmacht und eine Rede hält...?", sinnierte sie.
Legolas nickte.
"Mit Übung und eisernem Willen, ja, könnte er."
Lumiel nickte anerkennend.
"Nicht schlecht, Bruderherz, nicht schlecht."
"Gladhwen, deine jüngere Schwester", fuhr Legolas fort, "ist eine sehr fröhliche Person. Sie kann anderen die Trauer nehmen und in Freude wandeln."
Er sprach es nicht aus, doch Lumiel wusste, dass sie diese Fähigkeit nicht nur bekommen hatte, weil sie so fröhlich war. Sie wusste, dass Gladhwen nach ihr geboren worden war. Ein zweites Mädchen, nachdem das Erste kurz nach seiner Geburt verschwunden war. Wie oft hatten sie sie wohl angesehen und sich gefragt, ob sie Lumiel genauso erzogen hätten wie Gladhwen? Wie oft hatten sie sie wohl angesehen und sich gewünscht, sie hätten zwei Töchter und nicht bloß die eine? Wie oft hatte Gladhwen wohl ein Lächeln auf ihre Gesichter zaubern müssen, wenn sie um sie - Lumiel - trauerten? Ob ihre Schwester sie wohl hasste? Sie war verschwunden und hatte ihre Familie in Trauer zurückgelassen. Zugegeben, es war nicht ihre Schuld gewesen. Bis vor wenigen Monaten hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie die verschwundene Prinzessin des Erebors war; dass die verschwundene Prinzessin des Erebors überhaupt existierte. Hatte Gladhwen sich wohl als Ersatz für sie gefühlt? Manchmal bestimmt. Bestimmt war sie mit der Geschichte ihrer Entführung aufgewachsen, hatte ihre Eltern und ihren Bruder trauern sehen und hatte sich fühlen müssen, als wäre sie nur geboren, um ihrer Trauer ein Ende zu bereiten. Lumiel wusste, so hätte sie sich gefühlt.
Um nicht weiter über die möglichen Gefühle ihrer Schwester nachdenken zu müssen, setzte sie sich wieder in Bewegung und fragte: "Und Naira?"
"Sie hat ein explosives Temperament", antwortete Legolas trocken.
Lumiel schnaubte belustigt und stolperte fast. Sie fing sich wieder und kicherte.
"Sie kann sich in einen Drachen verwandeln", fügte sie hinzu.
Legolas nickte erneut.
"Sie musste auch gegen einen Drachen kämpfen. Sie war ein ebenbürtiger Gegner für Smaug."
"Smaug hätte sie fast umgebracht", widersprach Lumiel. "Ich habe die Geschichten gehört."
Der Elb zuckte mit den Schultern.
"Es war ihre erste Verwandlung, nachdem sie ihre Kräfte zurückerlangt hatte."
Lumiel nickte langsam. Die Geschichte hatte sie auch gehört.
"Ich habe gehört, Azog hätte im Namen Saurons versucht, ihre Kräfte zu erwecken", meinte sie. "Aber er hat es nicht geschafft, weshalb sie davon ausgingen, dass sie keine Kräfte mehr hätte."
Legolas blieb still. Das war keine Erinnerung, in der er gern schwelgte.
"Jetzt weiß er aber, dass sie welche hat. Wieso holt er sie nicht jetzt?"
Legolas schnaubte.
"Sie ist ein feuerspeiender Drache und wird von einem Berg geschützt, ganz zu schweigen von der Armee von Zwergen, ihrem Ehemann und ihren Kindern."
"Was ist mit meinen Geschwistern?", hakte sie nach.
"Ich wiederhole", erklärte der Prinz. "Sie werden von einem Berg beschützt, ganz zu schweigen von der Armee von Zwergen, ihrem Vater und einem feuerspeienden Drachen, den sie ihre Mutter nennen."
Das sah Lumiel ein.
"Verglichen mit ihnen bin ich wirklich das einfachste Ziel", murmelte sie vor sich hin.
"Das bedeutet aber nicht, dass du ohne Schutz bist", machte Legolas ihr Mut. "Du bist eine großartige Kämpferin und du hast Rohan und Aragorn und Gimli und mich hinter dir. Du musst uns dich nur beschützen lassen."
"Ich lasse mich von euch beschützen", behauptete Lumiel, fast schon beleidigt.
Legolas hob eine Augenbraue.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass dein kopfloses Hineinrennen in Gefahrensituationen ohne Unterstützung uns beschützt und nicht dich."
Lumiel verschränkte die Arme und sah in eine andere Richtung.
"Weißt du was, wenn der Krieg vorbei ist und ich dich zum Erebor bringe, werde ich Naira alles erzählen, was du dir geleistet hast, bis ins letzte, klitzekleine Detail. Am besten mache ich sogar eine Liste, damit ich nichts vergesse."
Sie schnaubte.
"Was soll sie tun? Mich maßregeln? Ich bitte dich. Ich bin kein Kind mehr."
"Aber sie wird sehr traurig sein, dass du dein Leben so unüberlegt aufs Spiel setzt."
Lumiel schob ihren Unterkiefer vor und weigerte sich, Legolas anzusehen.
Dieser seufzte.
"Wahrscheinlich wäre es für sie eine weitere Bestätigung, dass du ihre und Thorins Tochter bist."
Das weckte dann doch ihre Neugier.
"Inwiefern?", fragte sie und legte den Kopf schief, während sie ihn musterte.
"In der Schlacht der Fünf Heere", erklärte er, "auf dem Weg zum Rabenberg wollte Naira sich ständig verwandeln, doch Thorin und die anderen Zwerge verboten es. Der Feind hätte sie sofort aus der Luft geschossen und das wusste sie auch. Aber genau das war ihr Plan: Sie wollte das Feuer auf sich lenken, damit die Zwerge unbemerkt den Rabenberg einnehmen konnten. Ohnehin war die Geschichte auf dem Rabenberg ein einziges kopfloses Unterfangen deiner Eltern. Auf dem ganzen Schlachtfeld war es weniger gefährlich als da oben."
"Du willst mir also sagen, dass ich die Tochter meiner Eltern bin und, dass sie dafür verantwortlich sind, dass ich mich in Gefahr bringe", hakte Lumiel nach. "Also ist es doch nicht meine Schuld, dass ich das unstillbare Bedürfnis verspüre, andere zu beschützen und mich in Gefahr zu bringen."
Legolas schnaubte.
"Oh, du bist ganz ohne Zweifel die Tochter deiner Eltern, nur haben sie gelernt, sich gegenseitig in diese Gefahren zu begleiten und einander nicht wegzustoßen, wenn es gefährlich wird."
Lumiel legte den Kopf schief.
"Thorin hat Naira oft weggestoßen", erklärte der Elb. "Er wollte nicht verletzt werden. Sei das, weil sie wieder etwas gemacht hatte, das er als Betrug sah oder, weil er nicht wollte, dass sie in Gefahr geriet. Wenn du mich fragst, war Ersteres eine Ausrede für Letzteres. Und genauso machst du es auch, Lumiel: Du hast Angst, die Personen, die dir wichtig sind zu verlieren und so hältst du sie lieber auf Distanz, als dass du dir von ihnen helfen lässt; lieber stößt du uns von dir, als dass du uns an dich heranlässt."
"Ich lasse dich an mich heran!", widersprach sie heftig.
"Weil ich dich dazu zwinge, aber tust du das wirklich?"
Lumiel blieb still.
"Unsere ganze Reise hierher, wenn ich dich aus einer Gefahr gerettet habe und dabei mein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt habe - selbst, wenn das nur bei dir so ankam, denn du weißt, dass ich weiß, was ich tue - hast du mir Vorträge gehalten, dass du meine Hilfe nicht brauchst und, dass du auf dich selbst achten kannst."
Noch immer sagte Lumiel nichts.
"Glaubst du nicht, dass wir uns genauso um dich sorgen, wie du dich um uns sorgst? Wir mögen es auch nicht, wenn du dich in Gefahr begibst, damit wir es nicht müssen."
Die Worte, ruhig und ohne Anschuldigungen gesprochen, fühlten sich an wie tausend Messerstiche. Lumiel wusste, er hatte recht. Aber die Gründe, die er genannt hatte, waren nicht die Einzigen, die sie ihn auf Distanz halten ließ.
"Sauron ist hinter dir her, so viel wissen wir", sprach Legolas weiter. "Das war er vor zwanzig Jahren und das ist er heute und er wird nicht aufhören, bis er einen Drachen in seiner Gewalt hat."
Er sah sie eindringlich an.
"Für mich - für uns - und für Naira musst du vorsichtig sein - zumindest vorsichtiger - und am Leben bleiben. Wir haben dich ein Mal verloren, zwing uns nicht, das erneut durchzumachen. Naira hat dich gerade wiedergefunden, sie würde alles tun, um dich kein zweites Mal zu verlieren."
Lumiel kam ein Gedanke.
"Sauron will einen Drachen und er will ihn jetzt", meinte sie. "Könnte es möglich sein, dass er mich als Köder für Naira haben möchte? Du sagst, sie würde alles tun. Zählt dazu auch, sich selbst zu ergeben, um mich zu retten?"
"Natürlich", antwortete Legolas sofort. "Du bist ihre Tochter."
"Aber sie kennt mich doch gar nicht."
Der Elb lächelte.
"Das ist nicht wichtig. Du bist ihre Tochter. Und um dich kennenzulernen musst du am Leben sein. Es ist durchaus möglich, dass Sauron dich als Köder haben will. Aber das bedeutet auch, dass du keinen Zweck mehr für ihn erfüllst, sobald er Naira hat."
Na, das waren ja großartige Aussichten. Es war schon schlimm genug, als sie glaubte, dass Sauron sie als Brutmaschine missbrauchen wollte. Herauszufinden, dass sie vielleicht nur ein Köder für eine viel mächtigere Person sein sollte, war noch viel unschöner. Gut, es gab immer noch die Möglichkeit, dass sie beide Zwecke erfüllen sollte. Ach nein, die Freiheit war doch viel schöner.
"Na schön", gab Lumiel nach. "Ich werde vorsichtiger sein."
"Das bedeutet, du bleibst in Edoras?", fragte Legolas hoffnungsvoll.
"Auf keinen Fall!"
Was hatte er auch erwartet? Sie hatte eingewilligt, vorsichtiger zu sein. Wie konnte er da auf Wunder hoffen?
"Aus mir unbekannten Gründen", das war gelogen, sie kannte ihre Gründe sehr genau und vermutete einige andere, "ist es mir unmöglich, euch allein in die Schlacht ziehen zu lassen."
Sie sah Legolas fest in die Augen.
"Ich kann nicht herumsitzen und warten und hoffen und mir nebenbei doch die schlimmsten Fantasien ausmalen nur für den Fall, dass du-", sie brach ab und korrigierte sich, "dass ihr nicht zurückkommt."
Legolas hatte ihren Fehler trotz schneller Berichtigung bemerkt. Innerlich frohlockte er. Doch es war noch nicht der richtige Zeitpunkt. Zugegeben, es würde nie der richtige Zeitpunkt kommen. Er würde einfach einen nicht furchtbaren Zeitpunkt abwarten müssen.
"Das sehe ich ein", antwortete er also nur.
"Und jemand muss dafür sorgen, dass Théoden nichts Dummes tut", fügte sie hinzu. "Beispielsweise nicht Gondor zu Hilfe eilen."
"Du willst also mit ihm reden?"
"Natürlich werde ich mit ihm reden. Der Mann kann sich warm anziehen."
Legolas lachte.
Lumiel grinste.
"Viel Spaß."
"Danke, den werde ich haben."

Von Maerwyn und Lumiel (Der Herr der Ringe Fan-Fiction)Où les histoires vivent. Découvrez maintenant