Kapitel 19

12 1 0
                                    

"Es stimmt, man sieht nicht viele Zwergenfrauen. Tatsächlich sind sie uns in Stimme und Erscheinung so ähnlich, dass sie oft für männliche Zwerge gehalten werden."
Gimli hockte auf Éowyns Pferd, Windfola, und quatschte fröhlich vor sich hin.
Lumiel hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie gab sich wirklich Mühe - vor allem, weil sie ganz dringend eine Ablenkung von ihren eigenen Gedanken brauchte - trotzdem konnte sie nicht umhin, über ihr Gespräch mit Théoden nachzudenken. Der König hatte nicht unrecht gehabt, als er ihr die Gründe für sein Schweigen aufzeigte. Trotzdem fühlte sie sich verraten.
Hat Théodred es gewusst?, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Hat er es gewusst und nie auch nur einen Ton gesagt?
Großartig, jetzt fühlte sie sich noch furchtbarer, weil sie ihren - verstorbenen - Bruder verdächtigte, Geheimnisse vor ihr zu haben...
Ein Ruck ging durch die Zügel, die Donnerhufs Maul mit ihren Händen verbanden, und statt geradeaus, machte das Pferd einen Schritt nach links. Lumiels Augen wanderten langsam, wie in Trance, von ihren Händen den Zügel entlang, bis sie an langen, schlanken Fingern hängen blieben, die sich fest um das Zaumzeug gelegt hatten.
Von weiter vorne waren Rufe und das Donnern von Hufen zu hören. Sie rissen die Prinzessin aus ihren Gedanken und veranlassten sie dazu, den Blick zu heben.
Windfola war losgelaufen, hatte sich aus Éowyns Halt befreit und Gimli war auf dem Boden gelandet.
Lumiel prustete.
"Willkommen zurück im Reich der geistig Anwesenden", kommentierte Legolas spöttisch. "Kann ich davon ausgehen, dass du dein Pferd jetzt allein lenken kannst?"
Er bekam einen recht unfreundlichen Blick als Antwort.
Der Elb schenkte ihr ein halbseitiges Lächeln und schaute wieder nach vorne, wo eine lachende Éowyn Gimli auf die Beine half und ihm den Staub abklopfte.
Lumiels mürrische Miene wandelte sich zu einem belustigten Lächeln.
"Ich habe meine Nichte lange nicht mehr lächeln sehen", drang Théodens Stimme an ihr Ohr.
Der Ausdruck von, zumindest annähernder, Fröhlichkeit verschwand.
Legolas warf ihr einen besorgten Blick zu, den sie ignorierte.
"Sie war noch ein Kind, als sie ihren Vater tot zurückbrachten, von Orks niedergestreckt. Sie sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie der Trauer erlag. Dann war sie allein und pflegte ihren König mit wachsender Furcht. Dazu verdammt, einem alten Mann dienen, der sie wie ein Vater hätte lieben sollen..."
Könnten Lumiels Augen Dolche schießen, dann täten sie es jetzt wahrscheinlich.
Faszinierend, wie viele Dinge es doch gibt, wo du es hättest besser machen sollen... Wenigstens bist du dir dessen bewusst...
Hättest du es mir je gesagt, hätte ich dich nicht gefragt? Oder wären dir noch mehr Ausreden eingefallen, warum du es mir nicht sagen konntest?

Am Fluss machten sie Rast.
Lumiel nahm Donnerhuf Sattel und Trense ab und ließ den Rapphengst trinken. Sie wusste, er würde nicht fortlaufen. Trotzdem blieb sie neben ihm stehen. Sie brauchte Zeit für sich.
Éowyn kam mit einem Topf Suppe vorbei.
"Maerwyn", riss sie sie aus ihren Gedanken. "Du hast seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Ich habe Suppe gekocht, möchtest du etwas?"
Nichts für ungut, Éowyn, aber mit deinen Kochkünsten ist es nicht sonderlich weit her...
Lumiel lächelte.
"Danke, ich habe keinen Hunger. Ich esse später."
Die junge Frau nickte und machte einige Schritte von ihr weg, bevor sie sich wieder umdrehte.
"Dich bedrückt doch etwas."
Die Prinzessin schüttelte den Kopf, trotz zusammengekniffener Lippen lächelnd, um die andere zu beruhigen.
"Mir geht es gut."
Éowyn seufzte.
"Früher bist du zu mir gekommen, wenn dir etwas Trauer bereitete..."
"Wir alle trauern, Éowyn", entgegnete Lumiel sanft. "Wir haben gerade Théodred verloren und wir befinden uns im Krieg. Es gibt wenig, was man in diesem Moment nicht betrauern könnte. Nicht zuletzt den Frieden und die Heimat...das Leben, das man bis hierher kannte..."
Ihr Blick wanderte zu Théoden, auf der anderen Seite des Flusses.
"Wie dem auch sei...", sie fing sich wieder. "Frag Gimli oder Aragorn, ob sie schon gegessen haben. Gimli hat immer Hunger und Aragorn stellt die Bedürfnisse anderer über seine eigenen."
"Da ist er dir nicht unähnlich..."
"Gimli oder Aragorn?"
Éowyn lachte und Lumiel lächelte.
"Beide."
Lumiel bückte sich, riss ein Büschel Gras aus und warf es nach der anderen Frau, die sich kichernd entfernte.
Sie wandte sich wieder Donnerhuf zu. Gedankenverloren fuhr sie mit ihren Fingern durch sein weiches Fell. Obwohl es so viele Dinge gab, um die sie sich Gedanken machen könnte, dachte sie in diesem Augenblick an gar nichts.
Das änderte sich jedoch ganz schnell, als sie die Anwesenheit eines Gewissen Elben bemerkte.
"Ich wusste doch, dass ich dich da finde, wo sonst niemand ist."
Sie drehte sich nicht um.
Er hielt ihr ein Stück Brot hin.
"Du hast seit dem Morgen nichts mehr gegessen."
Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit.
"Ich habe keinen Hunger."
"Wir wissen beide, dass das nicht stimmt", widersprach er ruhig, aber bestimmt "Und ich lasse mich nicht so schnell abwimmeln wie deine Base."
Lumiel schnaubte und nahm das Brot.
"Ich will nicht sagen, ich hätte keinen Hunger", gab sie dann zu. "Aber Éowyn kann nicht kochen und ich möchte mir ungern den Magen verderben, wenn die Möglichkeit besteht, dass ich noch kämpfen muss."
Legolas lächelte amüsiert.
Lumiel verspeiste das Brot, ohne ihn anzusehen oder ein Wort zu sagen.
"Wieso bist du hier?", fragte sie schließlich, ihm wieder den Rücken zukehrend. "Doch sicher nicht nur, um mir etwas zu Essen zu bringen."
Legolas nahm sich Zeit, um zu antworten.
"Du hast recht", bestätigte er.
"Ich weiß", gab Lumiel über ihre Schulter zurück. "Es passiert immer wieder und trotzdem zweifelt man noch an mir."
"Ich habe mir Sorgen um dich gemacht", fuhr Legolas fort, ohne auf ihren Kommentar einzugehen.
Sie fuhr herum und der Atem blieb ihr im Halse stecken.
Der Prinz stand so nah vor ihr, würde sie einen Schritt auf ihn zu machen, müsste er sich nur herunterbeugen und- Sie brach den Gedanken ab. Ihre Augen huschten über sein Gesicht: Den Ansatz der blonden Haare, die perfekt geformte Nase - verflucht seien die Elbengene - die dunklen Augenbrauen, die irgendwie gar nicht zu den blonden Haaren passten, die blauen Augen, die Lippen-
Ein tiefer Atemzug und sie tauchte unter Donnerhufs Hals hindurch.
Ihre Gedanken rasten, wie auch ihr Herz. Sie drückte eine Hand auf ihre Brust, als könne sie es festhalten und so dafür sorgen, dass es wieder langsamer schlug.
"Wie-"
War das ihre Stimme? Seit wann war sie so piepsig und erstickt?
"Wieso?", wagte sei einen neuen Anlauf, nachdem sie ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hatte.
Legolas schaute verständnislos.
"Weil du meine Freundin bist und du dich seit unserem Aufbruch seltsam verhältst...?"
"Das meine ich nicht", widersprach Lumiel heftig und erschien wieder von Donnerhuf anderer Seite.
Das Pferd ließ sich weder von dem Austausch der beiden noch von dem Fakt, dass es von Lumiel als Blockade zwischen ihr und Legolas benutzt wurde, beeindrucken. Es stand einfach da, trank, futterte Gras und tat, als sei es ganz allein auf der Welt. Zugegeben, wenn es Gedanken hätte, würde es wahrscheinlich denken Jetzt küsst euch endlich und lasst mich zufrieden, aber das ist die Aufgabe der Leser und dieser Autorin.
"Ich verstehe nicht..."
Legolas wurde immer verwirrter, je länger das Gespräch andauerte.
"Ich auch nicht", schoss Lumiel zurück. "Ich verstehe dich nicht."
Für einen gut aussehenden Elben sah der Prinz jetzt ziemlich dumm aus.
"Was habe ich angestellt?"
Die junge Frau stöhnte genervt auf, warf die Hände in die Luft und drehte sich um.
"Maerwyn, wenn ich etwas getan habe, dass dich wütend gemacht hat, dann sag es mir bitte. Ich kann mich nicht entschuldigen, wenn ich nicht weiß, was ich getan habe."
"Das ist es doch gerade!"
Lumiel fuhr wieder herum.
Legolas zog eine Augenbraue hoch.
"Ich bin wer weiß wie gemein zu dir, schreie dich an, schubse dich durch die Gegend und du kommst trotzdem zurück! Ich verstehe es nicht! Wieso kannst du dich nicht einfach von mir fernhalten?!"
Ein Stich fuhr durch des Elben Herz.
"Willst du, dass ich mich von dir fernhalte?"
"Ich-", Lumiel brach ab.
Um ehrlich zu sein, wusste sie es nicht. Sie wusste, dass sie Legolas mochte, er war ein guter Freund, doch in letzter Zeit war da noch etwas anderes, etwas, das sie nicht kannte. Und das machte ihr Angst.
"Ich weiß es nicht", gab sie schließlich schwer atmend zu. "Ich weiß nicht, was ich will...Ich-"
Sie hockte sich auf den Boden und schloss die Arme um ihre Knie.
Legolas gesellte sich dazu.
Einen Moment lang waren sie still, beide sammelten ihre Gedanken.
"Maerwyn, ich kenne dich jetzt schon eine ganze Weile", begann Legolas schließlich. "Ich weiß, dass du deine Gemeinheit benutzt, um andere Gefühle zu verstecken und, weil du dich um andere sorgst. In erster Linie willst du, dass alle um dich herum in Sicherheit sind und wenn sie es nicht sind, gibst du dir die Schuld dafür. Deshalb komme ich immer zu dir zurück. Du passt auf alle auf, aber wer tut dasselbe für dich?"
"Ich kann auf mich selbst aufpassen", grummelte Lumiel vor sich hin.
"Ich weiß", antwortete Legolas. "Aber das musst du nicht."
Er stand auf und reichte ihr die Hand.
"Wenn du mich lässt, will ich auf dich aufpassen. Während du andere in Sicherheit bringst, bringe ich dich in Sicherheit. Während du auf andere Acht gibst, gebe ich auf dich Acht. Während du für andere stark bist, bin ich für dich stark."
Sie sah zu ihm auf.
"Und wenn du dabei stirbst?"
Wie könnte sie das in Kauf nehmen? Wie könnte sie seinem Vater, ihrer Mutter, sich selbst im Spiegel gegenübertreten in dem Wissen, dass sie ihn das Leben gekostet hatte?
"Das nehme ich in Kauf."
"Ich aber nicht!"
Sie erhob sich, ohne seine Hand zu nehmen.
"Ich erlaube es dir nicht", beschloss sie, das Kinn vorgeschoben.
Legolas lachte.
"Als könntest du mich aufhalten."

Von Maerwyn und Lumiel (Der Herr der Ringe Fan-Fiction)Where stories live. Discover now