Kapitel 23

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"Es tut mir leid."
Lumiel sah Legolas entschuldigend an.
"Ich hätte dich nicht anschreien dürfen."
Sie befanden sich wieder in dem Raum, in dem sie sich am vorherigen Tage gestritten hatten - nun, Lumiel hatte gestritten, Legolas hatte es über sich ergehen lassen.
Lumiel hatte gewusst, wenn sie jetzt nicht mit ihm sprach, würde sie es nie tun und sie wollte nicht, dass diese Sache für den Rest ihres Lebens zwischen ihnen stand.
Auch hatte sie einige unbequeme Wahrheiten loszuwerden.
Der Elb schüttelte den Kopf.
"Du hattest jedes Recht, wütend auf mich zu sein", widersprach er sanft. "Ich hätte dir nicht vorenthalten dürfen, wer du wirklich bist."
Jetzt schüttelte Lumiel den Kopf.
"Aber du hattest vollkommen recht", meinte sie. "Wäre ich an deiner Stelle gewesen, ich hätte wahrscheinlich genauso gehandelt."
Legolas machte einen Schritt auf sie zu, doch sie hob die Hand und er kam nicht näher.
Lumiel wandte den Blick ab. Sie nahm einen tiefen Atemzug.
"Wir sind Freunde", begann sie langsam.
Legolas ignorierte die leichte Enttäuschung, der er bei diesen Worten empfand.
"Das bedeutet, wir beschützen einander. Auch vor den Dingen - vor allem - vor den Dingen, die unser ganzes Leben auf den Kopf stellen würden. Und wenn wir einander nicht beschützen können, dann unterstützen wir einander..."
Sie verstummte kurz, dann sprach sie weiter: "Zu wissen, wer meine wirklichen Eltern sind, hätte genau das getan: Es hätte das Leben, dass ich bisher kannte aus den Fugen gerissen und auf den Kopf gestellt. Du wolltest das verhindern. Und du hast recht, ich hätte dir wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt. Ja, du hättest es mir nicht vorenthalten dürfen, aber du hattest wirklich keine Veranlassung, mir die Wahrheit zu sagen..."
Endlich sah sie ihn wieder an. Doch ihr Blick war anders als sonst. Er brach Legolas das Herz.
"Hätte ich dich gefragt...", begann sie, "...hättest du mir die Wahrheit gesagt?"
Sie hoffte, dass es so war, klammerte sich an die Hoffnung, dass sie seine gestrigen Worte richtig interpretiert hatte.
Daher wehte also der Wind. Deshalb schien ihr Blick so ängstlich und verletzlich.
"Ich hätte dir keine Lügen erzählt", antwortete Legolas diplomatisch, "aber ich hätte dir nur gesagt, was deine Fragen direkt beantwortet hätte."
Lumiel wurde heiß und kalt. Sie entschied, dass es Wut war, die in ihr aufstieg, also verlieh sie ihr Ausdruck.
"Was soll das heißen?", fauchte sie. "Hätte ich dich gefragt, wo meine Heimat ist, was hättest du gesagt?"
Legolas blieb ruhig. Es war eine Maske, sie war nicht wirklich wütend. Wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, welche Emotion sie gerade fühlte und wie sie sie ausdrücken sollte, weshalb sie sich für ein Gefühl entschied, das sie auszudrücken wusste.
"Rohan", antwortete er.
Bevor sie ihm widersprechen konnte, erklärte er: "Du bist hier geboren und aufgewachsen. Die Menschen, die du als deine Familie ansahst, leben hier. Heimat ist der Ort, an dem du dich zuhause fühlst. Hättest du nach dem Ort gefragt, an dem du geboren wurdest, hätte ich Waldlandreich gesagt, weil Naira dich dort zur Welt brachte. Erebor hätte ich nur angesprochen, wenn du nach dem Ort gefragt hättest, an dem du dein ganzes Leben hättest verbringen sollen."
"Wieso hätte ich dich das fragen sollen?! Ich hatte keine Veranlassung dazu?!"
"Eben", kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. "Aber sei ehrlich: Hätte ich Erebor gesagt, wie hättest du reagiert?"
Lumiel verstummte. Sie hatte dieses Gespräch führen wollen, um sich mit Legolas zu versöhnen. Stattdessen stritt sie wieder. Sie schloss die Augen und versetzte sich in die Situation, die Legolas beschrieben hatte.
"Ich weiß es nicht", gab sie zu. "Ich wäre verwirrt gewesen, hätte es nicht verstanden."
Sie öffnete die Augen.
"Du hast recht", antwortete sie.
Legolas lächelte, sie erwiderte es nicht. Jetzt oder nie. Jetzt war der Moment, alle unbequemen Wahrheiten ein für alle Mal auszusprechen und sie danach totzuschweigen.
"Nicht nur in dieser Situation", fügte sie hinzu.
Der Prinz legte den Kopf schief und öffnete den Mund.
"Bitte lass mich ausreden", unterbrach sie ihn, bevor er etwas sagen konnte. "Wenn ich es nicht tue, sage ich es nie oder ich schreie dich wieder an und das ist das Letzte, was ich will."
Also nickte er.
"Du hast recht", wiederholte sie und sah weg.
Die Wand war interessant: dunkler, grauer Stein. Sehr schick.
"Ich hätte dir nicht geglaubt, hättest du mir ungefragt die Wahrheit gesagt oder Antworten gegeben, die nicht in mein Weltbild gepasst hätten."
"Ich weiß, dass meine Reaktion gestern nicht unbedingt...", sie überlegte, suchte nach einem passenden Wort, "angebracht", entschied sie dann, "war. Ja, ich habe mich betrogen gefühlt, weil du es wusstest, bevor ich es wusste und du nichts gesagt hast. Aber nichts von dem, was du gestern gesagt hast, rechtfertigt meinen Umgang damit. Ich habe dir nicht einmal eine wirkliche Gelegenheit gegeben, dich zu erklären..."
Sie schluckte.
Und wenn er beschloss, dass er nach dieser Beichte nichts mehr mit ihr zu schaffen haben wollte?
Wenn er erkannte, dass diese Situationen vielleicht öfter auftauchen könnten?
Nein, sie musste das hier zu Ende bringen, sonst würde der Druck in ihrer Brust, der sich seit dem Moment, da sie erkannt hatte, dass Legolas wusste, wer sie wirklich war, aufgebaut hatte, zu viel.
"Ich habe dir eine Frage nach der anderen gestellt und dir keine Möglichkeit gegeben, über die Antwort nachzudenken..."
Sie hob den Blick. Tränen schimmerten in ihren Augen.
"...Und das alles nur, weil ich nicht denken wollte...", gestand sie mit erstickter Stimme. "Ich wollte nicht darüber nachdenken, was es bedeutete, für mich, für uns, für alle. Dass du etwas wusstest, das ich nicht wusste. Denn wenn du es wusstest, wer wusste es sonst noch? Welche Geheimnisse hattest du sonst noch vor mir? War unsere Freundschaft auf Lügen gebaut?"
Die Tränen liefen jetzt frei über ihre Wangen und Legolas wollte nichts mehr, als zu ihr gehen und sie in seine Arme schließen. Doch sie hatte ihn gebeten, sie sprechen zu lassen und so blieb er, wo er war.
Lumiel blieb eine Zeit lang still, während sie das Schluchzen zurückdrängte, das versuchte, sich aus ihrer Kehle zu stehlen.
Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, sprach sie weiter: "Und das ist nur ein Teil der Zweifel, die ich hatte. Und bevor ich darin unterging, wollte ich wütend sein. Ich wollte etwas anderes fühlen als diese furchtbaren Zweifel. Du hattest recht, als du sagtest, dass ich meine Gemeinheiten und meine Wut benutze, um andere Gefühle zu verstecken."
Sie lachte kurz.
"Ich hasse es, wenn du recht hast."
Legolas grinste auch.
"Darf ich-", er zögerte. "Darf ich jetzt reden?"
Lumiel überlegte kurz.
Hatte sie alles gesagt, was sie hatte sagen wollen? Gab es noch irgendetwas, das sie sagen musste?
Eine Frage vom Vortag schoss ihr in den Kopf.
"Wenn du von Anfang an deine Vermutungen hattest...", begann sie. "Wer ich wirklich bin, meine ich... Wieso hast du dich mit mir angefreundet? Warst du neugierig? Wolltest du deinen Verdacht bestätigt sehen? Und wenn ja, bist du nur mit mir befreundet, um dein Gewissen Mu- Naira gegenüber zu beruhigen?"
Sie hatte Mutter sagen wollen, doch es fühlte sich nicht richtig an. Sie hatte diese Frau eine Handvoll Male getroffen und noch weniger mit ihr geredet.
"Valar, Lumiel, nein!", rief Legolas aus.
Schon als sie begonnen hatte, die Frage auszusprechen, hatte er gewusst, wohin sie führen würde, und er war entsetzt, dass sie so dachte.
"Warum würdest du das denken?"
"Was sollte ich denn denken?", gab Lumiel zurück.
Sie zwang sich, ihre aufkommenden Gefühle nicht wieder hinter ihrem Temperament zu verstecken. Nur ein Mal, in diesem einen Moment, wollte sie vollkommen offen sein.
"Du sagst mir, du hast von Anfang an gewusst, dass ich nicht Elfhilds und Théodens Tochter sein kann und, dass die Ähnlichkeiten zwischen mir und Naira und Thorin offensichtlich waren. Was, zum Teufel, soll ich denken, wenn ich so etwas höre? Natürlich denke ich, dass du wissen wolltest, ob du recht hattest. Natürlich denke ich, dass du nur mit mir befreundet bist, damit Naira später nicht fragen kann, warum du mich nicht beschützt hast? Sag mir ehrlich, Legolas, was sollte ich denken?"
Legolas blieb still. Er sah ein, woher diese Gedanken kamen. Doch es tat ihm weh, dass Lumiel seine Zuneigung so einfach als Selbstschutz abtat. Hatte er in den letzten fünf Jahren, ja, in den letzten Monaten, nicht mehrmals bewiesen, wie gut er sie kannte? Dass sie ihm etwas bedeutete?
Lumiel missverstand sein Schweigen als Geständnis.
"Ich verstehe...", murmelte sie und ging, den Blick auf den Boden geheftet zur Tür.
Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah.
Nur noch ein Schritt trennte sie vom Ausgang, als sich schlanke, aber starke Arme um sie schlossen und ihre eigenen Arme an ihren Körper drückten.
Lumiels Augen öffneten sich weit und ihr Kopf schoss nach oben.
Legolas hielt sie fest an sich gepresst.
Ihr wurde heiß und sie verspürte ein Stechen in der Brust. Kein schmerzhaftes Stechen, als ramme ihr jemand einen Dolch ins Herz, sondern ein angenehmes Stechen, als lese sie ein Buch und ihre Lieblingscharaktere küssten sich endlich, nach so vielen Missverständnissen und Intrigen.
"Jetzt lass du mich ausreden", verlangte der Elb, während er seinen Kopf neben ihren senkte. "Ich gebe zu, ich war neugierig. Doch nicht, weil ich glaubte, Lumiel vor mir zu sehen. Nach allem, was ich wusste, war sie tot..."
Lumiel, er hatte Lumiel gesagt, anstatt du...
"Zumindest war sie verschwunden", korrigierte er sich. "Und so sehr Naira und Thorin und Frerin und mein Vater und ich und so viele andere wollten, dass sie noch lebte, es war einfacher zu glauben, sie sei es nicht. Es war weniger schmerzhaft, zu glauben, dass sie tot sei, als uns einzugestehen, dass wir sie verloren hatten."
Seine Stimme brach. Ein leises Schniefen war zu hören und Lumiels Hände umschlossen seine Unterarme und sie lehnte ihren Kopf gegen seine Brust.
"Ich habe damals bei der Suche nach ihr geholfen", fuhr er etwas gefasster fort. "Aber ich fand genauso viel wie die zwergischen Spione Thorins: gar nichts... Irgendwann gaben wir auf. Die Suche und die Hoffnung. Wir wollten es nicht, doch um ihretwillen mussten wir hoffen, dass sie tot war. Wir wollten uns nicht ausmalen, was die Orks oder der, der sie geschickt hatte, ihr antun würden. Und so hofften wir, dass sie die Reise nicht überlebt hatte..."
Legolas drehte Lumiel herum und hielt sie an den Schultern auf Armeslänge von sich. Seine Augen waren rot gerändert.
"Und dann, fünfzehn Jahre, nachdem wir die Hoffnung aufgegeben hatten, traf ich dich", erzählte er. "Ich bin fast von meinem Stuhl gefallen als Aragorn dich als Prinzessin von Rohan vorstellte."
Lumiel grinste.
Sie erinnerte sich noch gut an den Moment. Legolas, ohnehin schon recht blass, hätte einem Geist Konkurrenz machen können, als er sie gesehen hatte. Und dann hatte Aragorn sie vorgestellt und plötzlich war der Elb am Schwanken gewesen und wäre fast seitwärts von seiner Sitzgelegenheit gestürzt.
"Du sahst Naira und Thorin so ähnlich, dass es kein Zufall sein konnte", meinte er weiter. "Und dann hast du den Mund aufgemacht."
Lumiel prustete los, auch Legolas grinste.
"Deine Art zu sprechen war überhaupt nicht zwergisch", erklärte er. "Aber was hatte ich auch erwartet? Du warst von Menschen und Elben großgezogen worden."
"Hast du erwartet, ich würde mehr fluchen? Oder informeller sprechen?", fragte Lumiel grinsend. "Denn das hat Herr Elrond mir ganz schnell abgewöhnt."
"Ja, irgendwie schon", gab er lachend zu, dann wurde er wieder ernst. "Lumiel, ich wurde dein Freund, weil ich dich mochte. Du hattest eine unglaublich nette, gute Ausstrahlung an dir, die mich sofort in den Bann gezogen hat. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ein Mensch, schon gar nicht eine Menschenfrau, eine Prinzessin noch weniger, mit solch einer Ausstrahlung, das Bedürfnis haben würde, Mittelerde zu erkunden.
Ich war neugierig, weil ich wissen wollte, welche Prinzessin so abenteuerlustig und mutig ist, ihre Heimat hinter sich zu lassen."
Lumiel lächelte leicht.
"Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass mein anfänglicher Verdacht, was deine Herkunft anbelangte, ziemlich schnell in den Hintergrund rückten. Ich gebe zu, immer mal wieder sah ich Ähnlichkeiten, vor allem zwischen dir und Naira, vor allem als wir einander besser kennenlernten und du anfingst, weniger auf deine Ausdrucksweise zu achten und dich verhieltest, wie es dir gerade in dem Kram passte. Doch erst, als du mir erzähltest, dass du heilende Kräfte besitzt und, dass du glaubtest, sie von deiner Mutter geerbt zu haben, rückte er wieder in den Vordergrund. Da wusste ich, dass ich von Anfang an recht gehabt hatte; dass du Lumiel bist."
Lumiel nickte langsam.
"Glaubst du mir?", hakte Legolas nach.
Er sprach leise, als habe er Angst, sie könne ihm davonlaufen, spräche er lauter.
Lumiels Nicken wurde heftiger.
"Ich glaube dir", versicherte sie und lächelte.
Legolas erwiderte die Geste und zog sie wieder an sich.
"Erlaub mir eine Frage noch", bat die Prinzessin, während sie die Arme um seine Mitte schloss.
Legolas brummte und sie löste sich wieder von ihm.
"In Lothlórien, als du mich suchen kamst... Du kamst nicht wirklich, weil du dir Sorgen gemacht hast, oder?"
"Doch", widersprach Legolas, die Hände wieder auf ihren Schultern. "Aber nicht, weil du so lange weg warst. Herrin Galadriel hatte mir mitgeteilt, dass sie dir die Wahrheit sagen würde und, dass ich auf dich Acht geben sollte."
Lumiel nickte verständnisvoll. Ihre Augen wanderten über den Prinzen vor ihr. Sie wusste, dass er nicht log. Wieso sollte er auch?
Doch eine Sache störte sie noch.
"Warum meinte Herrin Galadriel, mir die Wahrheit sagen zu müssen...", murmelte sie vor sich hin. "Es ergibt keinen Sinn... Was hat sie davon, wenn ich es weiß? Inwiefern hätte es unsere Reise beeinflusst, hätte ich es nicht gewusst?"
Legolas schnaubte.
"Woher soll ich das wissen?"
Lumiel sah ihn unbeeindruckt an.
"Das ist mir bewusst", meinte sie. "Ich denke nur laut."
Legolas lächelte.
"Also ist zwischen uns wieder alles in Ordnung?", fragte er noch einmal, um sich selbst zu beruhigen.
Lumiel nickte und lächelte ebenfalls.
"Ja, zwischen uns ist alles in Ordnung."

Von Maerwyn und Lumiel (Der Herr der Ringe Fan-Fiction)Where stories live. Discover now