1. Kapitel

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„Als Schreiber über die Geschichte, Auge meiner Zeit, versuch ich stets meine eigene Wertung aus meinen Zeilen zu entziehen. Dank meines doch etwas ungewöhnlich langen Lebens habe ich erkennen dürfen, dass jede Emotion, jedes Ziel unserer Götter, der Ideen, oder auch uns Sterblicher, einen eigenen Weg und einen in sich sicheren Grund aufweist. Nur in einem Fall gelingt mir diese Distanz nicht und ich kann nicht anders als es verdorben einstufen, falsch und durchweg widerlich.

Die sterblichen Völker wurden vor beinah 2.100 Jahren geschaffen und vor ungefähr 110 Jahren endete der Daumaje, der Zweite Große Krieg der Schöpfung. Dies bekannterweise durch den Abschied aller Ideen und vieler ihrer Nachkommen, den Ideenkindern, Halbgöttern. Ruhe kehrte auf den Kontinent Auervam ein und seine doch jungen Völker fanden alle ihren Platz darin.

Die Elfen, Ir genannt, passten sich ihrer Umgebung an, von Waldelfen zu Eiselfen, Meerelfen zu Hügelelfen, sie alle lebten in Einklang mit der Natur, unzählige Arten doch treu ihrem Element.

Die fleißigen Zwerge, Isonal, widmeten sich ihrem Handwerk, seien es die Bergzwerge und ihre ewigglimmenden Schmieden, die Wasserzwerge und ihre Basteleien aus Stahl und Glas oder die Karawanenzwerge und ihr Geschick für den Handel und die Reise.

Die Orks, Hamazu, lebten wieder für die Jagd und den Kampf, laut ihr Geschrei und breit ihre Muskeln.

Und die Menschen, Auerbe, verteilten sich schlicht überall, so verschieden wie keine andere Art.

Die Jäger jagten wieder, die Ritter schwangen ihre Schwerter für Ehre, die Bauer säten und Barden besangen all dies. Könige regierten und Völker folgten und alles nach den Regeln der Ideen, ein jeder in seinem vorgesehenen Platz. Krieg war endlich vorbei und der Kontinent Auervam hätte auf ewig auf diese Art und Weise in seiner neuerlangten Ruhe und Beharrlichkeit weiterleben können.

Nicht so eine Stadt, ein Schandfleck ohnegleichen. Denn es gab es manche, die die Rangordnung der Ideen ablegten. Solche, die den Abschied unserer Götter nicht als Gnade sahen, sondern als Thron freigeräumt für Nächsten, für Sterbliche. Und in einem jedem Stamm fanden sich solch Ketzer und Wahnsinnige, doch dort hielt es sie nicht. Denn ein jeder mit solch verdorbenen Gedankengut fand früher oder später den gleichen Ort, die Kulisse der Schande, Monument des Frevels.

Wenn ich einen Wunsch an die Ideen sprechen könnte, ein Gebet wahrhaftig erhört, mein Herz wäre sich sicher. Die Geschichte soll sie schlucken und vergessen, nicht mal der Deckmantel der Legenden wäre würdig für sie. Ein einziger Fleck wäre von diesem Bild zu entfernen und auf immer zu verschweigen.

Die sogenannte freie und schöne Stadt Badazan."

Aufzeichnungen von Schwester Lufarion,

Historiker in einem der östlichen Tempel des Diersasi Ordens

ca. 110 Jahre nach dem Daumaje, dem zweiten großen Krieg der Schöpfung

über die freie und schöne Stadt Badazan


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„Ein Tempel? Hier?" Der Mann zischte die Worte leise in Richtung seiner Begleitung, während die beiden sich tiefer hinter einer der großen schweren Holzkisten versteckten. Der erdrückende Geruch von Staub und fauliger Luft machte das Atmen schwer, doch sie versuchten krampfhaft still zu sein.

„Ja, die Stadt hatte auch einmal Tempel?! Und jetzt halt die Lippen ruhig und höre auf den Gang!" Die schmale Frau starrte ihn ermahnend an und horchte dann wieder aufmerksam. Im Raum selbst erklang kein einziger Ton, doch außerhalb hörte man die gelangweilten Schritte müder Wachen.

Träume aus Badazan - Stadt ohne GötterWhere stories live. Discover now