Kapitel 35

36 7 113
                                    

„Was hast du deiner Mum jetzt gesagt?", fragte mich Timothy.

„Dass ich bei der Nachhilfe bei Henry bin und danach noch zu dir gehe."

„Okay, ich bin offiziell beim Training, Grace beim Geigenunterricht und ich danach bei dir und Grace bei Göksu."

„Da kommt der Zug", unterbrach uns Grace. Es war heute regnerisch und bewölkt und ich war froh, als wir in den beheizten Waggon einstiegen.

Während der Fahrt sprachen wir nichts, sogar Grace war still. Wir waren alle nervös und jeder machte sich seine eigenen Gedanken dazu, was uns erwarten würde. Nach einer dreiviertel Stunde kamen wir in Ulm an und stiegen in die Regionalbahn nach Stuttgart um. Nach einer weiteren Stunde waren wir endlich am Hauptbahnhof der Landeshauptstadt. 

Da der Bahnhof eine einzige Baustelle zu sein schien, waren wir erst ziemlich orientierungslos, bis wir wussten, in welche Richtung wir gehen mussten. In der Königstraße, in der es vor Menschen wuselte, angekommen, machten wir uns auf die Suche nach dem Café, in dem sich William mit uns treffen wollte.

Obwohl ich das Foto von William nicht gesehen hatte, war es nicht schwierig, den Halbvampir in dem kleinen gemütlichen Café auszumachen. Sein Gesicht war genauso ebenmäßig und bleich wie das seiner Geschwister. Die Haarfarbe glich der von Timothys Mum und schon aus einigen Metern Entfernung erkannte ich die markante Bernsteinfarbe seiner Augen. 

Aufrecht saß er in einem eleganten Anzug an einem der kleinen Tische und führte eine Kaffeetasse an seine Lippen. Doch der Halbvampir war nicht allein. Ein Mann mit dunklen lockigen Haaren, die sorgfältig in einem Kurzhaarschnitt gestylt waren, saß neben ihm und scrollte mit dem Finger auf seinem Smartphone. 

Seine dunkle Haut strahlte eine warme Tiefe aus, die im gedimmten Licht des Cafés besonders zur Geltung kam. Ich staunte – die beiden waren unheimlich schön. 

Zögerlich gingen wir auf sie zu. Eine Gänsehaut überkam meinen Körper, als William uns erblickte und ein arrogantes Lächeln auf seinen Lippen erschien. Timothy ergriff meine Hand, als wir an dem Tisch mit den beiden Männern ankamen.

„Habt ihr uns Abendessen mitgebracht?", fragte William mit einem starken amerikanischen Akzent, als wir uns zu ihnen an den kleinen Tisch setzten. Verwirrt schaute ich ihn an, als sein Blick mich traf und er sich genüsslich über die Oberlippe leckte.

Timothys Kehle entwich ein drohendes Knurren, das ich bisher nur ein einziges Mal von ihm gehört hatte. Wieder lief es mir eiskalt den Rücken hinab und ich bereute es fast, dass ich mitgekommen war.

„Beruhig dich Brüderchen. Ich rühre deinen Snack nicht an."

„Was ist los mit dir?", entrüstete sich Timothy. „Er ist mein Freund!"

Nun entfuhr unserem Gegenüber ein lautes überhebliches Lachen und zum ersten Mal schaute der andere Mann neben ihm von seinem Smartphone auf. William grinste ihn an und schielte dabei zu mir: „Riechst du das nicht?" 

Der andere blickte skeptisch von ihm zu mir, schüttelte den Kopf und widmete sich dann wieder sichtlich desinteressiert seinem Smartphone. „Bemerkenswert", schmunzelte William und musterte mich wieder durchdringend.

Nun meldete sich endlich Grace zu Wort und unterbrach damit die seltsame Stimmung: „Hallo William, danke, dass du dir die Zeit nimmst, dich mit uns zu treffen. Wir haben einige Fragen an dich."

Er wandte sich Grace zu. „Glaube nicht, liebes Schwesterchen, dass ich euch einen Gefallen damit tun will. Ich bin nur mindestens genauso neugierig auf euch, wie ihr auf mich. Wisst ihr, mir ist es in den vergangenen achtzig Jahren, trotz größtem Aufwand, nicht gelungen, unsere verfluchte Mutter ausfindig zu machen. 

Tristan und Timothy 2 [BxB] - Wenn Eis und Bernstein eins werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt