Hämatit

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„Und?", fragte Dad zwischen zwei Löffeln voll Reis, die er sich gerade großzügig in den Mund schaufelte.
„Was?"
„Du weißt schon."
Ich wurde misstrauisch und beäugte meinen Gegenüber mit schmalen Augen. „Sprich wenn du etwas zu sagen hast alter Mann."
„Immer gleich so frech", murmelte Dad und ließ mich warten indem er erneut etwas Reis aß. „Wie gefällt sie dir - die Seongon? Hast du Freunde gefunden?"
Ich blinzelte ihn an. „Und das fragst du mich am Freitag? Jetzt da ich schon fast eine Woche lang an der Schule bin?"
Dad zuckte die Achseln. „Ich wollte dir Zeit lassen."
„Klar."
„Also?"
„Was?", grinste ich.
Dad verdrehte die Augen und auch meine Mutter seufzte frustriert. „Schule, soziales Leben? Wurdest du schon in einen Mülleimer gesteckt?"
„Das sind bloß Mythen, so etwas geschieht nur in Filmen."
„Schön, also kein Mobbing. Herzlichen Glückwunsch."
Ich schüttelte den Kopf über den genervten Ton in seiner Stimme, endlich mit der Sprache rausrückend. „Die Seongon ist cool, keine Sorge. Und ich denke ich habe auch schon ein paar Freunde gefunden." Ich sprach letzteres recht vorsichtig aus, weil ich mir nicht sicher sein konnte, ob ich Sehun (und seine Freunde) tatsächlich schon als Freunde bezeichnen konnte. Irgendwie schien es nämlich eher so, als würde Sehun keine Freundschaften, sondern viel eher Bündnisse schließen. Und es stellte sich die Frage ob ich in seinen Augen ein Bündnis wert war, oder nicht. Bisher schien jedoch alles darauf hinauszulaufen das ich es wohl war, denn seit Montag hatte er sich kaum einmal von mir abgewendet.
„Das ist gut Jongin", strahlte meine Mutter, sichtlich etwas erleichtert.
„Macht euch keine Sorgen um mich", riet ich und klang ein wenig als würde ich sie allein für den Gedanken etwas schelten.
„Ist wohl so ein Eltern-Ding. Sich um sein Kind zu Sorgen."
Ich antwortete nicht und beendete stattdessen mein Frühstück.
Als ich gerade die Haustür hinter mir geschlossen hatte, vibrierte mein Handy in der Hosentasche. Ich zog es hinaus und öffnete die Kakao Nachricht die gerade angekommen war.

‚Heute bei mir?'

Ich grinste leicht, während ich kurz aufsah um zu garantieren, dass ich noch auf der richtigen Straße war. Ich hatte den Schulweg noch nicht oft genug bestritten.

‚Vermisst du mich schon?'

‚Kein Stück!', kam prompt die Antwort und ein Emoticon mit verengten Augen und wütendem Gesichtsausdruck poppte gleich darunter auf. ‚Und?'

‚Geht klar', bestätigte ich schnell und biss mir auf die Unterlippe um nicht loszulachen, als Ravi mich mit glücklichen Emoticons bombardierte.

‚Fragst du Kyungsoo ob er auch kommt?'

‚Du bist doch in derselben Klasse wie er! Hast du Angst vor ihm?'

‚Ja zu beidem.' Meine Finger schwebten über den Buchstaben, als eine neue Nachricht von Ravi ankam. ‚Ich hab ihn seit Mittwoch nicht mehr gesehen.'

Ich runzelte die Stirn und blieb kurz stehen um schneller schreiben zu können. ‚Ist er krank?'

‚Weiß nicht. Kann ihn nicht erreichen.'

‚Ich ruf an. Wir sehen uns später.'

Die Antwort die Ravi darauf hinterher schickte las ich mir nicht mehr durch, stattdessen drückte ich auf die Kurzwahl 3 um Kyungsoo anzuklingeln. Als er an sein Mobiltelefon nicht ran ging versuchte ich es mit der Festnetznummer. Beim zweiten Versuch kam jemand an den Hörer.
„Hallo?"
Ich zögerte. „Kyungsoo?"
„Jongin!"
Kyungsoo klang völlig außer Atem, als wäre er gerade Joggen gewesen. „Ja ich bin's. Alles klar bei dir?"
„Alles Bestens", ich hörte ihn noch immer wie wild nach Luft schnappen. „Was gibt's?"
„Was gibt's bei dir?", fragte ich und betonte das letzte Wort vor allem. „Wieso bist du so außer Atem?"
„Ich bin gerade erst Heim gekommen", antwortete er und ich hörte wie es im Hintergrund raschelte. Ich konnte mir gut vorstellen wie Kyungsoo durch seine Wohnung flitzte, dabei den Hörer zwischen Wange und Schulter eingeklemmt hielt, um seine Sachen zusammenzusuchen oder sein Bett zu machen.
„Dein Nebenjob", erinnerte ich mich und er brummte bestätigend.
„Geht's dir gut Jongin?"
„Ja klar", versicherte ich. „Ich wollte mich eigentlich erkundigen wie es dir geht. Ravi hat gesagt du warst seit Mittwoch nicht mehr in der Schule. Bist du krank?"
Das Rascheln hörte auf und ich sah Kyungsoo vor mir, wie er den Hörer wieder in die Hand nahm und aufhörte zu tun was auch immer er gerade getan hatte. Er seufzte in den Hörer und ich zog die Augenbrauen zusammen. „Hyung?"
„Ich habe mir eine miese Erkältung eingefangen, als ich letztens vergessen habe vor dem Schlafengehen das Küchenfenster zu schließen. Als ich aufgewacht bin hatten wir gefühlte Minusgrade in der Wohnung", erklärte er lachend und schniefte demonstrativ.
„Klingt nicht gut."
„Ist schon wieder vorbei, mach dir keine Sorgen", beschwichtigte er schnell. „Ich gehe heute wieder in die Schule."
„Bist du dann nicht etwas spät dran?"
„Erste Stunde haben wir frei", erklärte er.
„Oh okay?" ich fragte mich weshalb Ravi dann schon so früh auf war (der Kerl stand gewöhnlich eine halbe Stunde vor Schulbeginn erst auf, weil er für seinen Schulweg rennend nur fünf Minuten brauchte) musste aber grinsen, als ich daran dachte, dass er es höchstwahrscheinlich einfach vergessen hatte. Wäre nicht das erste Mal. „Bist du dann heute Abend frei?"
Das Rascheln hatte wieder angefangen, als Kyungsoo nach dem Warum fragte.
„Ravi vermisst mich", erklärte ich. „Ich dachte vielleicht vermisst du mich auch." Bei der anderen Leitung hörte ich einen dumpfen Schlag. „Alles okay bei dir?"
„Ja! Ja alles in Ordnung, ich bin mit dem Knie gegen den Schrank gelaufen."
Ich verzog das Gesicht. „Sicher dass du wieder gesund bist?"
„Größtenteils."
„Und?"
„Du willst ernsthaft eine Antwort darauf ob ich dich vermisse?"
Ich prustete los. „Nein! Und kommst du heute?"
„Oh, uh klar. Wenn es nicht zu spät ist."
„Wir haben noch keine Uhrzeit abgemacht, aber ich nehme an, gegen halb sieben wie immer?"
„Ja klingt in Ordnung."
„Gut."
„Na dann, wir-"
„Hyung", unterbrach ich ihn und konnte das Lächeln das meine Lippen spannte nicht stoppen. „Und?"
„Ich hab doch gesagt dass ich komme."
„Nein Hyung. Und, vermisst du mich?" Ich wartete geduldig auf seine Antwort bis plötzlich das Freizeichen an mein Trommelfell schlug.
„Wenn das kein Ja war", murmelte ich während ich das Handy vom Ohr nahm. Das Display das zu mir hoch lächelte, offenbarte mir das ich noch drei Minuten hatte, bevor meine erste Stunde anfangen würde.
Fluchend rannte ich los ohne das Smartphone wegzupacken.

Der Lehrer der am Schultor stand blickte mich mit einer missbilligenden Miene an, als ich vor den geschlossenen Schultoren schlitternd zu stehen kam. „Heute stand keine Freistunde auf den Plan", informierte er mich.
„Tut mir leid." Ich hatte nicht einmal eine Ahnung wie der Lehrer hieß, ich hatte ihn in keinem Schulfach.
Er seufzte und schloss auf, bevor er mich hinein winkte. „Das nächste Mal denk daran früher aus dem Haus zu gehen!"
„Mach ich", versicherte ich bevor ich auf den Haupteingang der Seongon zu rannte. Ich nahm immer zwei Stufen gleichzeitig, als ich ins obere Stockwerk lief um mein Klassenzimmer zu erreichen. Ich holte ein paar tiefe Atemzüge während ich an die Tür klopfte. Sobald ich die Schiebetür aufgeschoben hatte, spürte ich wie ein kleiner Gegenstand von meiner Brust abprallte. Verwirrt blickte ich zu Boden, wo ein trockener Schwamm vor meine Füße gerollt war. Dann zurück nach oben. Die Klasse lachte leise, während Luhan mich mit einem strengen Blick musterte.
„Du bist zu spät Kim Jongin."
„Richtig", ich beugte mich hinunter, um den Schwamm aufzuheben den Luhan offensichtlich nach mir geworfen hatte. „Tut mir Leid."
Er deutete mit dem Kopf zur Tafel. „Du kannst dich gleich nützlich machen."
Ich ließ meinen Rucksack an der Wand neben der Tafel liegen und machte mich missmutig an die Arbeit. Mir war bewusst, dass Luhan mich das nur tun ließ weil er mich schälten wollte, denn wenn ich eines in dieser einen Schulwoche gelernt hatte, dann das kein Lehrer, bis auf Minseok, noch die Tafel benutzte. Stattdessen wurde an ein super modernes Gerät geschrieben das die Schrift direkt an die weiße Wand, über der grünen Tafel projizierte.
Ich klatschte mir den Kreidestaub von den Händen, als ich fertig war Minseoks Tafelbild von Mittwoch wegzuwischen. Und Luhan blickte sich kurz zu mir um, um meine Arbeit zu begutachten. „Du kannst dich hinsetzten", urteilte er und schenkte mir sogar ein kleines Lächeln. „Bitte vermeide es jedoch zu spät zur Schule zu kommen."
Ich nickte und wollte gerade gehen, als die Schiebetür erneut aufschwang. Im Vergleich zu mir jedoch mit deutlich mehr Elan. Drei Herzschläge später und ein Kopf lugte um die Ecke. „Kein Schwamm heute?" Sehun schritt mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen ins Klassenzimmer und schloss die Tür hinter sich. „Auch eine nette Abwechslung." Dann blieb er stehen und blickte von mir zu Luhan. „Oh." Ich sah wie er im Kopf eins und eins zusammenzählte, so wie ich es gerade getan hatte. „Hat es dich heute erwischt, Jongin?"
„Sehun", fuhr Luhan dazwischen und knirschte mit den Zähnen. Sein Kopf war gerötet vor Wut.
„Ich bin zu spät", sagte er bevor Luhan es tun konnte. „Aber", er hob eine Hand an, als würde er einen Schwur ablegen. „Ich habe eine gute Erklärung."
Es war ziemlich unangenehm zwischen Luhan und Sehun zu stehen. Die dunklen Schwingungen die von Luhan aus kamen, fühlten sich an wie Nadeln die man mir in die Haut steckte.
„Und der wäre?", presste er hervor.
„Mein Bus hatte Verspätung."
Die Klasse prustete los und Luhan massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenbrücke. „Setz dich Sehun...bevor ich dich aus dem Fenster stoße." Den letzten Teil hatte Luhan nur gehaucht, so dass es außer Sehun (und mir unweigerlich) niemand hören konnte.
„Das würden Sie nicht wagen", erwiderte Sehun ebenso leise, bevor er sich mit einem gut gelaunten Lächeln abwandte. Den Witz mit dem Bus würde ich erst in der nächsten Pause verstehen, als Baekhyun ihn mir erklärte.
„Sehun lebt drei Minuten die Straße hinunter, da fährt kein Bus und das weiß jeder ziemlich genau." Irgendwie tat mir Luhan in diesem Augenblick ein klein wenig leid.
„Hast du was vor am Wochenende?", fragte Sehun später, als das Ende der sechsten Stunde mit der Schulglocke verkündet wurde.
„Heute?"
„Nein, morgen."
„Nicht wirklich."
„Großartig, wie wäre es wenn wir um die Häuser ziehen? Du hast deine erste Woche an der Seongon überstanden, ich finde das sollte gefeiert werden." Sehun hatte einen Ausdruck in den Augen der mir nicht ganz geheuer war, aber ich entschied mich, mir nichts weiter dabei zu denken. „Klar, gern."
„Gut", strahlte er. „Ich hol dich um zehn ab."
„Soll ich dir meine Andresse schicken?"
„Nicht nötig."
„Oh. Okay."
Anschließend wandte er sich um und rief nach vorne, wo Baekhyun gerade das Klassenzimmer verlassen wollte: „Samstag?"
Baekhyun blickte mich kurz mit besorgter Miene an, dann zuckte er die Achseln. „Samstag!", rief er zurück und als beide sich Chanyeol, der hinter Baekhyun gelaufen war, zuwandten, nickte auch dieser bestätigend.
Das Klassenzimmer leerte sich daraufhin recht schnell und als ich meine Sachen gepackt hatte, blickte ich erwartungsvoll zu Sehun. Dieser schien jedoch nicht gerade in Aufbruchsstimmung. Er saß noch immer auf seinem Stuhl und faltete gerade einen Papierflieger aus, was aussah wie Luhans Erklärung über die Ming-Dynastie von der er uns heute im Chinesisch Unterricht erzählt hatte.
„Gehst du nicht Heim?"
Sehun schüttelte den Kopf, faltete das Blatt ein letztes Mal und präsentierte mir Stolz den fertigen Flieger. „Kann nicht. Leider."
„Wieso?"
Sehun wandte sich nach vorne und ließ seinen Papierflieger mit Informationen über ein einstiges Imperium im Kaiserreich China nach vorne segeln. Im selben Moment trat Luhan in den Raum und hob den Flieger auf, der an der Tafel abgeprallt war. Mit finsterer Miene wandte er sich um und sein Blick stach Messer in Sehuns Brust.
„Musst du dich immer so verdammt kindisch benehmen?"
„So ein Papiersegler hat etwas sehr elegantes", antwortete Sehun. „Außerdem ist es eine Form von Origami, also gehört es zu dem Chinesischen Krimskrams das du uns beibringst."
„Origami stammt ursprünglich aus Japan", antwortete Luhan trocken und seufzte frustriert, als er entdeckte was eigentlich auf dem gefalteten Blatt vermerkt war. „Wieso gibst du dir überhaupt die Mühe die Dinge aufzuschreiben, die ich sage? Sie landen ohnehin im Müll oder", er hob den Flieger an. „Als traurige Ausgeburt deines beschränkten Verstandes."
Ich starrte Luhan mit offenem Mund an, doch dieser kümmerte sich nicht weiter, ebenso wenig Sehun. Er zischte nur und beugte sich nach vorne, als würden ihn Luhans Beleidigungen nur noch mehr anstacheln. „Ich bitte dich. Wir beide wissen das ich mehr Gripps habe als die meisten Leute an dieser Schule."
„Oh deine Noten sagen etwas anderes."
„Und deshalb sind wir hier." Ich hatte langsam das Gefühl gehabt dabei zu stehen, als würde ich einen Film betrachten. Doch mit dieser letzten Aussage seitens Sehun hatte er sich zu mir gewandt, als wolle er alles erklären.
Nur das ich noch nicht folgen konnte. „Wie?"
„Luhan gibt mir freitags Nachhilfe, weil meine Noten so schlecht sind in Chinesisch. Deshalb kann ich noch nicht Nachhause gehen."
„Ach so, na gut dann geh ich jetzt am besten?" Ich hatte ein ungutes Gefühl die beiden alleine zu lassen. Irgendwie befürchtete ich sie würden in einen Streit ausbrechen bei dem nicht nur böse Worte flogen, sondern Fäuste und Tritte. Selbst Luhan als Autoritätsperson schien mir zu allen Mitteln fähig.
„Ist gut. Wir sehen uns morgen?"
„Bis dann", bestätigte ich und schulterte meinen Rucksack, um das Klassenzimmer zu verlassen. „Tschüs", richtete ich an Luhan und deutete eine Verbeugung an.
„Schönes Wochenende Jongin", sagte Luhan und ich hörte ihn Seufzen als ich auf den Flur trat.
Die meisten Schüler hatten die Schule bereits verlassen, bemerkte ich als ich den Flur hinunter schlenderte. Als ich gerade die Treppe erreicht hatte, kam mir überraschenderweise jemand entgegen.
„Ah Jongin", lächelte Minseok. „Auf dem Nachhauseweg?"
„Ja", bestätigte ich. „Was ist mit Ihnen? Sind Sie für heute noch nicht fertig?"
„Doch nur-" er hob die zwei Dosen in seinen Händen etwas an, damit ich sie besser sehen konnte. „Ich bringe das zu Luhan. Er wiederholt noch ein paar Dinge mit einem Schüler und..."
„Wenn sie was im Mund haben können sie nicht streiten", grinste ich.
„Du weißt schon Bescheid?", lachte Minseok.
„Es ist kaum zu übersehen."
„Die Beiden sind sich zu ähnlich. Es sind beides Sturköpfe, die wie Stiere mit ihren Hörnern voraus preschen." Tatsächlich schien mir diese Erklärung für ziemlich angemessen. So wie die beiden sich in Anwesenheit des anderen verhielten, konnte man echt an einen Stierkampf denken.
„Dann sind Sie der Torero, der die beiden Stiere in Schach hält", schlussfolgerte ich und Minseok dachte kurz darüber nach und nickte dann zustimmend.
„Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden", grinste er. „Liest du Hermann Hesse Jongin?"
„Nein Sir", lächelte ich.
„Du solltest dir ein Buch von ihm ausleihen. Er hat einen Roman mit dem Titel ‚Siddhartha' geschrieben. Ich bin mir sicher es würde dich Interessieren."
„Vielleicht", antwortete ich wage und Minseok verabschiedete sich daraufhin indem er leicht seine zwei Dosen schüttelte.
„Haifischfutter, bevor sie sich noch gegenseitig auffressen."
„Bis Montag Sir."
Irgendwie war es urkomisch wie aus Stieren plötzlich Haie wurden und Sehun und Luhan noch immer ins Bild passten.

Als ich am Abend vor Ravis Haustüre stand erwartete mich eine Umarmung bei der mir die Knochen knacksten. „Sachte Kumpel", ächzte ich und schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken. „Hab dich auch vermisst, aber...Luft..." Als er von mir abließ sackte ich erleichtern in mich zusammen und begrüßte alle anderen bereits Anwesenden. Erst jetzt fiel mir so wirklich auf, wie sehr ich allesamt vermisst hatte. Hyuk legte mir einen Arm um die Schultern und bedankte sich für den Bericht, den ich geschrieben hatte und für die Bilder die ich im Verlauf der Woche hinterher gesandt hatte.
„Ist Kyungsoo noch nicht da?", fragte ich als ich mich in Ravis Zimmer umsah, doch keine der vier anderen Personen war Kyungsoo.
„Nein, noch nicht aber er hat in der Schule versichert das er kommen würde, also-" Und prompt klingelte es an der Tür. „Eine Sekunde", entschuldigte sich Ravi und als er das nächste Mal auftauchte, hatte er Kyungsoo im Schlepptau.
Meine Augenbrauen verschwanden beinahe in meinem Haaransatz als der dunkelhaarige hinter Ravi eintrat. Nicht falsch verstehen, mein bester Freund war schon immer gut aussehend mit seinen großen Augen und der schlanken Figur, aber jetzt gerade sah Kyungsoo...untypisch gut aus. Er war komplett in schwarz gekleidet (was nichts Neues war) aber er hatte seine Haar frisiert, so dass sie ihm nicht in die Augen fielen und der Effekt war überwältigend.
„Hey", grüßte er mich und stupste mich mit dem Ellenbogen in die Seite um ihm etwas Platz auf dem Boden zu machen. Ich kroch bereitwillig ein Stück nach links, wo Amber und Henry sich gerade über das neue Drama unterhielten das sie beide verfolgten.
„Zur Feier des Tages", verkündete Ravi laut, so dass wir ihm unsere Aufmerksamkeit schenken mussten (was ganz gut war, denn ich war noch immer nicht über die Tatsache hinweggekommen das Kyungsoo seine Haare gestylt hatte), gleichzeitig holte er eine Flasche Soju aus seinem Kleiderschrank und präsentierte sie stolz. „Habe ich eine Flasche des besten Tropfens ausgewählt um Jonginnie hier zu beglückwünschen. Er hat den Sprung in die Elitenwelt geschafft und kommt von der anderen Seite um uns Bericht zu erstatten." Ich schüttelte amüsiert den Kopf als man mich dazu aufforderte den ersten Schluck des Discounter Reisweins zu nehmen, den höchstwahrscheinlich Ravis älterer Bruder ihm besorgt hatte. So wie ich die beiden kannte, hatte Ravi als Gegenleistung wahrscheinlich den Abwasch für seinen Bruder erledigt oder dessen Zimmer aufgeräumt.
Anschließend gab ich die Flasche weiter an Amber und begann ein paar Fragen zu beantworten und zu erzählen, was ich bisher so an der Seongon erlebt hatte. Als klar wurde das die Seongon eine mehr oder weniger gewöhnliche Schule war, ließen sie von mir ab und während die Falsche ihre Runden drehte, vertieften sich alle bald in Einzelgespräche.
„Wie geht's dir?", richtete ich an Kyungsoo. Die Falsche war gerade bei ihm angekommen und er nippte kurz an ihr. Er war noch nie ein großartiger Trinker gewesen.
„Gut. Besser. Nicht mehr krank." Er lächelte als er die Flasche an mich gab. „Wie läuft's bei dir?"
„Wirklich normal", brummte ich. „So großartig ist die Seongon echt nicht. Sie ist vor allem hübsch anzusehen und die Stühle sind wahnsinnig bequem."
„Die Stühle?"
„Ja. Das man komfortable Stühle braucht, merkt man erst wenn man auf gepolsterten Holzstühlen anstatt harten Gummi-Dingern sitzt."
„Du meinst Kautschuk", grinste Kyungsoo.
„Ja oder das Zeug."
„Deinem Hintern scheint es also zu gefallen", stichelte der dunkelhaarige weiter und ich lehnte mich auf meine Hände zurück. Es tat gut so mit Kyungsoo zu reden, noch vor ein paar Wochen war das unser Alltag gewesen.
„Ganz genau!" Während Kyungsoo lachte hob ich eine Hand an, um endlich dem Drang nachzugeben sein Haar zu berühren. Gegen jede Erwartung (die ich allesamt selbst aufgestellt hatte) war es noch immer weich und nicht hart von dem Gel oder Haarspray oder was auch immer er benutzt hatte.
„Es steht dir gut. Die Haare so zu tragen meine ich."
Kyungsoo vergrub seine Zähne in der Unterlippe. „Jemand...hat mir empfohlen es mal auszuprobieren."
„Wer unserer Freunde hat so viel Scharfsinn?", lachte ich und ließ die Hand wieder sinken.
„Niemand besonderes", versicherte er und als der Soju wieder bei Kyungsoo angekommen war, nahm er einen ordentlichen, längeren Schluck.
„Ach komm, vielleicht kann ich mir ja auch den ein oder anderen Tipp abholen?"
Kyungsoo schüttelte entschieden den Kopf. „Ich mag dein Haar wie es ist."
„Nur mein Haar?"
„Vor allem dein Haar."
Ich schob die Unterlippe nach vorne, bis Kyungsoo mich nicht mehr ansehen konnte und mich mit einem Stoß zur Seite fallen ließ. Direkt in Amber hinein die in Henry fiel und Ravi und Hyuk plötzlich pfiffen und klatschten. Amber schlug mir mit der flachen Hand über den Kopf bis ich mit vor Lachen schmerzendem Bauch hinter Kyungsoo Schutz suchte.
Als der Abend voranschritt und die Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert war, lehnte ich mich an die Zimmerwand zurück, ein warmes Gefühl im Magen. Alle saßen oder lagen irgendwie auf dem Laminat-Fußboden verteilt, und wenn man aufstand um kurz auf die Toilette zu gehen, musste man aufpassen, dass man nicht über irgendwelche Gliedmaßen stolperte. Ravi hatte irgendwann seinen Computer hochgefahren, um eine Playlist abzuspielen, die aus einer lustigen Kombination aus amerikanischem Rap und süßen Kpop Girl-Group Liedern bestand, und manchmal brach unser Gespräch einfach in der Mitte ab, nur damit wir den Chorus von Wonder Girls' ‚Nobody' oder Girls Generation's ‚Boys' mitdröhnen konnten. Schief und vor allem sehr tief, da Amber das einzige Mädchen in unserer Gruppe war, nicht das wir uns daran störten.
Fünfzehn Minuten vor zehn lehnte sich Kyungsoo plötzlich auf und streckte die Arme über den Kopf.
„Du willst schon gehen?", fragte ich überrascht.
Kyungsoo nickte grinsend und machte Anstalten aufzustehen, woraufhin Ravi's Lieblings Shirt von APink's Konzert in Seoul vom letzten Jahr durch die Luft segelte. Er fing es gekonnt auf, bevor es ihn ins Gesicht treffen konnte. „Wohin willst du?", fragte Ravi schmollend und plötzlich war der Blick von allen auf den dunkelhaarigen gerichtet.
„Ich muss los", entschuldigte sich Kyungsoo und winkte einmal in die Runde.
„Ich bring dich Heim", meldete ich mich schnell und Kyungsoo schüttelte entschieden den Kopf. Etwas was er in letzter Zeit wohl öfter tat.
„Schon gut Jongin ich komme zurecht."
Ich lehnte mich wieder zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Klingt als hättest du eine heimlich Freundin", rief Hyuk und kollektiv stimmten alle ein ihm zuzustimmen.
„Wie heißt sie Kyungsoo-Hyung?"
„Ist die hübsch?"
„Bestimmt! Sonst würde er sie nicht vor uns verstecken."
Kyungsoo lachte bloß, verneinte jedoch nichts. Als er gegangen war und wir hörten wie unten die Haustüre zuschlug wandte sich Amber mir zu. „Stimmt es wirklich Jongin?", fragte sie milde erschrocken und alle blickten mich ernst an.
„Ich hab keine Ahnung", antwortete ich ehrlich. „Ich weiß nicht wohin er jetzt noch geht."
„Aish wir hätten ihm folgen sollen", murrte Hyuk.
„Hey wir sind doch keine Spanner", erinnerte Henry mit einem Kopfschütteln. Worauf Hyuk nur ein scharfes: „Bist du nicht neugierig?" einwarf, zu dem Henry keine Antwort hatte.
„Er ist schon irgendwie komisch in letzter Zeit, findet ihr nicht?", fragte Amber und hatte einen Gesichtsausdruck, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Ich verstand dies jedoch, immerhin war Kyungsoo ein guter Freund von uns allen und hinter seinem Rücken über ihn zu reden, fühlte sich falsch an.
„Ich weiß. Ich meine dieses ganze Fehlen in der Schule und heute ist er erst zur zweiten Stunde aufgekreuzt."
„Ihr hattet keine Freistunde?", fragte ich überrascht. Alle schüttelten den Kopf. „Echt nicht?"
„Wieso?"
„Nur so", log ich. Ich wollte Kyungsoo nicht in Schwierigkeiten bringen indem ich sagte, dass er mir heute Morgen am Telefon noch gesagt hatte, dass die erste Stunde ausfiele. Außerdem wollte ich irgendwie nicht zugeben, dass Kyungsoo mich wohl angelogen hatte. Was so gut wie noch nie vorgekommen war.
„Aber heute war er doch ganz normal oder?", fragte Amber und ich nickte mit den anderen einher. „Also ist es wahrscheinlich nichts ernstes, nicht wahr?" Sie grinste. „Vielleicht ist er so drauf, weil Jongin die Schule gewechselt hat?"
„Würde eher zu Jongin passen", verneinte Ravi lachend. „Jetzt da Kyungsoo ihn nicht mehr kontrollieren kann, wird er seine Schulzeit daheim verbringen."
„Lustig, ist euch aufgefallen das Ravi noch kein einziges Mal geschwänzt hat seit Jongin nicht mehr auf der Yokseng ist?", warf Henry ein, bevor ich etwas sagen konnte.
„Er ist erst seit einer Woche weg!", erinnerte Ravi genervt.
„Ja, länger als du seit der siebten ausgehalten hast."
Daraufhin konnte Ravi nur grinsen. „Alleine macht es halt nur halb so viel Spaß."
Wir blieben noch eine Weile, bis uns langsam die Augen schwer wurden und wir uns dazu entschieden uns für die Nacht zurückzuziehen.
Hyuk verabschiedeten wir bereits an der Türschwelle von Ravis Zuhause, weil er in eine gänzlich andere Richtung als Amber, Henry und ich gehen musste und den anderen winkte ich zum Abschied, als sie in eine andere Straßen abbiegen mussten.
Erst als ich vor meinem alten Haus stand, bemerkte ich, dass ich den vertrauten Weg selbstverständlich gefolgt war, obwohl mein neues Zuhause in einem ganz anderen Distrikt aufzufinden war.
Noch vor einer Weile wären Kyungsoo und ich gemeinsam zu Ravi gegangen, wir hätten sein Haus gemeinsam verlassen und wir wären die Straße zusammen entlang gelaufen, bis wir vor meinem Zuhause angekommen waren. Kyungsoo würde stehen bleiben. Jedes Mal würde er stehen bleiben, während ich einfach weiterliefe, als hätte ich gar nicht bemerkt, dass ich mein Ziel eigentlich schon erreicht hatte. Irgendwann würde Kyungsoo seufzen und wieder zu mir aufschließen. Wir würden kein Wort darüber verlieren, dass ich Kyungsoo nachhause begleitete, denn irgendwann hatte Kyungsoo es aufgegeben mich deshalb zu schälten. Wir lebten in keiner gefährlichen Gegend und Kyungsoo war sogar älter als ich, also gab es eigentlich keinen Grund für mich so zu handeln, dennoch ließ ich von dieser Gewohnheit niemals ab.
Ich vergrub die Hände tiefer in den Jackentaschen, weil ich plötzlich zu frösteln begann. Ich lief an unserem alten Haus vorbei, in dessen Fenstern kein Licht brannte. Es war ungewöhnlich leise, kaum mehr Autos fuhren die Straße entlang und ich hatte niemanden mit dem ich mich über Ravi lustig machen konnte oder bei dem ich mich über die Schule beschweren konnte. Plötzlich fühlte ich wie eine nagende Unsicherheit sich um mein Herz legte, wie eine schwere Decke drückte sie es hinunter. All diese Veränderungen, was wenn sie mein altes Leben tatsächlich bis zur Unkenntlichkeit zerstückeln würden? Musste ich mich davor wirklich fürchten, oder übertrieb ich? Veränderungen mussten nichts Schlechtes bedeuten. Ohne Veränderungen gab es keinen Fortschritt.
Als ich vor Kyungsoos Hochhaus stehen blieb und in den Himmel stierte kam mir der Gedanke, ob ich es nicht eventuell vorziehen würde einfach an Ort und Stelle stehen zu bleiben. Wollte ich mein altes Leben wirklich aufgeben?
Ich drückte die Klingel am Hauseingang und wartete darauf dass Kyungsoos Stimme durch die Freisprechanlage klingen würde. So vertraut wie eh und je. Ein Zeichen das mein altes Leben noch zu retten war, dass all das neue in meinem Leben das alte nicht überschattete.
Ich wartete vergeblich. Nach dem dritten Klingeln, ließ ich den Knopf gar nicht mehr los in der Hoffnung Kyungsoo wäre einfach nur eingeschlafen und ich könnte ihn damit wecken. Aber selbst dann rührte sich nichts. Stirnrunzelnd blickte ich auf das Display meines Handys. Es war kurz vor ein Uhr morgens. Wo steckte Kyungsoo jetzt noch?
Ich entfernte mich nur langsam vom Hauseingang, insgeheim darauf hoffend das Kyungsoo vielleicht gleich zur Türe herausgeschossen kam und außer Atem erklären würde, das seine Klingel außer defekt war und er die Türe hier unten nicht mehr öffnen konnte. Er hätte versucht so schnell wie möglich zu mir zu gelangen, aus Angst ich wäre schon gegangen, doch der Aufzug war ebenfalls defekt, weshalb er gezwungen war die Treppe hinunter zu spurten. Er wäre so froh mich noch zu sehen und würde mich hereinbitten.
Natürlich geschah nichts dergleichen. Egal wie langsam ich über den Bürgersteig trottete Kyungsoo ließ sich an diesem Abend nicht mehr blicken. Für eine Weile spielte ich mit den Gedanken Kyungsoo eine SMS zu schreiben, oder ihn anzurufen, doch ich fürchtete die Antwort die er mir geben würde.
‚Wo steckst du Kyungsoo? Ich bin vor deinem Haus.'
‚Ich kann nicht kommen', würde er antworten. ‚Ich verbringe die Nacht bei meiner Freundin. Ich muss auflegen Jongin.'
Ich versuchte also nicht ihn anzurufen und überließ es meiner eigenen Vorstellungskraft mir auszumalen, was er gerade tat und wieso er nicht Zuhause war.
Die eigenen Gedanken waren vielleicht unbarmherziger als die Realität, aber einmal der Wirklichkeit ausgeliefert gab es keine Möglichkeit mehr in die Sicherheit der eigenen Erfindungsgabe zu flüchten. Und ich war nicht bereit für die Realität. Nicht heute Nacht.
Als ich später, müde und frierend, nach Hause kam war ein kleiner gelber Zettel an den Spiegel im Flur geheftet, auf dem ich die krakelige Handschrift meines Vaters erkannte.
‚Sind spontan übers Wochenende nach Jeju gefahren. Komm nach wenn du möchtest. M&D' Mom und Dad. Ich zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Mülleimer in der Küche, wo ich mir ein Glas Wasser einschenkte.
In diesem großen, stillen Haus war es schwer die lauten Gedanken in meinem Kopf zu überhören. Gedanken die mir vor Augen führen wollten, dass ja, es hatte sich alles verändert. ‚Sieh hin was von deinem alten Leben übrig geblieben ist', hörte ich flüstern und schüttelte den Kopf.
„Veränderungen sind nichts wovor man sich fürchten muss", sprach ich in die Stille, um wenigstens irgendwas zu hören. Doch das Haus schien meine Worte zu verschlucken und raubte mir jede gespielte Zuversicht.
Ich schrieb die aufkommende Panik dem Alkohol zu. Ich schrieb alles dem Alkohol zu, ehe ich mich auf der Wohnungscouch zusammenrollte und mit Anstrengung ins Nichts driftete.
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Liebe Grüße! <3


DiamantenstaubWo Geschichten leben. Entdecke jetzt