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~*~

  Luhan fiel in Minseoks Familienleben wie ein Regentropfen ins Meer. Er war sogleich als ein Familienmitglied akzeptiert worden und eine Woche später schien jeder vergessen zu haben, dass er bis vor kurzem noch nicht zu ihnen gehört hatte.

  Einzig der Engel selbst fühlte sich wie ein schwarzer Fleck auf einem weißen Kleid. Es war...qualvoll. Luhan hatte den Tag herbeigesehnt an dem er Minseok wiedersehen würde. Er hatte unglaubliche Schmerzen in der Hölle ertragen nur mit dem Bild von Minseok vor seinem inneren Auge, das ihn nicht ermüden ließ.

  Und als es so weit war...als er Minseok zum ersten Mal Angesicht zu Angesicht stand, war es wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Er hätte weinen wollen vor Freude oder Schreien vor Euphorie. Er wollte Minseok an sich reißen und gleichzeitig wollte er ihn vor Furcht nicht berühren.

  Dann war Rahil hinter seinem Rücken aufgetaucht und später die zwei Kinder und...plötzlich lag alles in Scherben.

  Luhan lag in Scherben.

  Minseok, das einzige Wesen das ihm je etwas bedeutet hatte, hatte keine Ahnung wer Luhan war. Was er für ihn getan und aufgegeben hatte. Was er für Luhan bedeutete. Minseok hatte ein Leben. Eine Familie. Kinder. Luhan spielte für ihn keine Rolle.

  Er war sich sicher diese Gewissheit musste mehr geschmerzt haben, als das Brechen seiner Flügel, als er auf der Erde aufschlug. Eine Erinnerung drängte sich in seine Gedanken: Nach seinem schmerzhaften Fall hatte es Luhan gerade erst geschafft seine Augen zu öffnen und den klaren, blauen Himmel zu sehen, als Hände ihn aus seiner Grube gehoben hatten.

  „Gefallener." Der Mann, der ihn festgehalten hatte - so hatte er später herausgefunden, war der Erzengel Jinki, in dessen Nähe er in die Erde eingeschlagen war. Luhan hatte gewimmert und seine Augen standen in Tränen, als der Erzengel mit leuchtenden, weißen Händen seine Haut entlang fuhr. Luhan wäre es lieber gewesen, er hätte ihm mit einem Messer die Haut aufgeritzt.

  Luhan war nur dank einem letzten Aufbegehren seiner Macht und Yixing's Hilfe gerettet und in die Hölle gebracht worden. Es war so ein knappes  Unterfangen gewesen, dass Luhan noch immer ab und an bittere Angst auf seiner Zunge schmeckte.

  „Was hast du?", fragte die zehnjährige Jia und legte ihm ihre kleine, klebrige Hand auf die Wange. Es riss ihn völlig unvermittelt aus seinen Gedanken.

  „Es ist nichts", sagte er und versuchte sich an einem Lächeln. Luhan hatte so viele Menschenkinder gesehen – er hatte Minseok heranwachsen gesehen und doch verstand er nichts von Kindern und ihren großen, unschuldigen Augen.

  „Mama sagt man darf nicht lügen."

  „Oh mh, ich lüge nicht", log Luhan und das Kind schüttelte unglücklich den Kopf.

  „Du sahst traurig aus!"

  „Stimmt das Luhan?", fragte plötzlich die allzu vertraute Stimme von Minseok. Luhan blickte auf. Er saß mit den Kindern auf dem Teppich vor dem Kamin – der im Sommer natürlich nicht brannte. „Bist du traurig?"

  „Ja!", rief Jia und die siebenjährige Mina wiederholte das Wort mehrfach und mit erhobenen Armen.

  „Das ist gar nicht gut", sagte Minseok mit besorgter Stimme zu seinen Töchtern und ging auf die Knie. „Was sollen wir jetzt tun?"

  „Kuss!", rief Jia, woraufhin Luhan erschrocken die Augen aufriss.

  Minseok lachte nur laut los. „Luhan, du Herzensbrecher! Du hast mir meine kleine Tochter geklaut."

  „Nein, so-"

  Minseok lachte nur noch lauter über Luhans erschrockenes Gesicht. Er stieß ihm spielerisch einen Ellenbogen in die Seite. „Ganz ruhig. Ihre Mutter liest ihnen zur Bett-Zeit immer ein Märchen vor und Märchen haben kein glückliches Ende, wenn der Prinz und die Prinzessin sich zum Schluss nicht küssen – so ist es doch oder?" Die Kinder riefen begeistert ihre Zustimmung aus.

FallenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt