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An der Seite des Erzengels lernte Hoseok bald, was es mit den Aufgaben eines himmlischen Wächters zu tun hatte. Er war sanft und liebevoll zu allem und jeden, den er sah, er lächelte den Naturgeistern zu, wenn er eine besonders schöne Blume am Straßenrand erblickte und grüßte vorbeiziehende Bauern, die ihre Waren in das nächste Dorf brachten.

Aber der Erzengel kümmerte sich nicht um Mord und Diebstahl und Krieg. Im Gegenteil, gerade diese schrecklichsten aller menschlichen Delikte schienen ihn nicht zu kümmern.

„Wieso unternimmst du nichts?", fragte Hoseok also an einem Tag. Sie waren in einer recht großen Stadt angekommen, in der weinende Frauen ihren, in den Krieg ziehenden Männern, mit weißen Stofftüchern hinterher winkten. „Wieso muss es diese ganzen Kriege geben?"

„Weil es die Entscheidung der Menschen ist."

„Aber das kann doch nicht richtig sein tausende Menschen sterben zu lassen, nur damit ein paar Lords ihre Ländereien ausweiten können."

„Wieso sollte das nicht richtig sein? Alle Menschen entscheiden für sich was nun richtig oder falsch ist. Erst im Himmel sind sie dazu verpflichtet sich den wahren Gesetzen zu unterwerfen."

„Und auf der Erde kann Krieg und Terror herrschen und es kümmert niemanden?"

Der Erzengel zuckte die Achseln. Etwas in seinem Gesicht verriet Hoseok, dass er selbst nicht allzu viel von den himmlischen Herangehensweisen hielt. „So ist es wohl."

„Wenn also nicht für die Menschen, wieso bist du dann hier?", fragte er seinen Weggefährten.

„Gefallene Engel", antwortete er nach einer Pause. „Engel, die die Regeln verletzen und ihre Existenz verwirkt haben werden auf der Erde für ihre Vergehen gerichtet. So will es der Oberste Schöpfer."

„Wieso auf der Erde?", fragte Hoseok dann.

„Es ist ein symbolischer Akt den Verräter aus seiner Heimat zu stoßen. Seine Flügel verbrennen bei dem Sturz und sein gesamter Körper bricht, wenn er auf dem harten, unnachgiebigen Boden der Erde aufkommt. Ein gefallener Engel fällt immerzu in die Nähe eines Erzengels und von diesem wird er dann gerichtet."

„So ist das also. Und...was ist mit mir?"

„Verlorene Seelen, wie du...sie...sie fallen nicht wirklich in den Aufgabenbereich von Erzengeln." Der Mann beobachtete vorsichtig Hoseoks Reaktion, als prüfe er wie sehr ihn seine Worte verletzen könnten. „Die meisten Erzengel kümmern sich nicht weiter um euch, so wie sie sich auch nicht weiter um die Menschen kümmern."

„Aber was ist mir dir? Wieso bist du anders?"

Das Gesicht des Erzengels verzog sich langsam in eine traurige Maske, seines üblicherweise fröhlichen Selbst. „Ihr seid unschuldige Wesen, die verloren umher streifen, ich will euch helfen weil ich weiß dass ihr unter eurer Last leidet."

Hoseok hatte das Gefühl der Erzengel sprach nicht allein von Verlorenen Seelen, sondern von viel mehr als das. „Wieso kümmert es dich?"

Der Erzengel seufzte leise. „Vor langer Zeit, als ich noch ein Mensch war, war ich eine ziemlich bedeutende Persönlichkeit", er schnaubte, als würde er sein altes Ich spöttisch belächeln. „Das Leben anderer Menschen war mir nicht viel wert. Ich war der Anführer einer großen Armee und ich habe tausende Menschen unter mir befehligt." Der Erzengel sah Hoseok an aber sein Blick schien durch die Verlorene Seele hindurch zu gehen. „Als der Prinz eines benachbarten Landes aufmüpfig geworden ist, habe ich nicht davor gescheut ihm meine gesamte Armee entgegen zu schicken. Es war...es war ein klarer Sieg auf meiner Seite und meine Armee trug kaum Verluste, das andere Reich jedoch war blutrünstig zerstört worden. Aberhunderte Frauen verwitwet, junge Knaben getötet, bevor sie wussten wie man einen Speer richtig zu werfen hat und heilige Tempel achtlos zertrümmert. Ich weiß nicht wieso mich das als Mensch so kalt gelassen hat und noch weniger kann ich sagen, wieso mich dieses Leben als Engel so sehr geprägt hat. Eigentlich ist es ein Widerspruch."

FallenWhere stories live. Discover now