Das letzte Geheimnis

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Die nächste Zeit herrscht Eiszeit. Ich gehe meiner Mutter aus dem Weg, ignoriere sie und sie hat es aufgegeben mich anzusprechen. Wir existieren nebeneinander und das war es. Ich bin froh, wenn ich mich auf die Schule, auf das Cheerleadern und meine Freunde konzentrieren kann. Die Weihnachtsmärkte sind ebenfalls eine wirklich gute Ablenkung, die ich mit meinen Freundinnen so oft es geht besuche. Wir trinken, tanzen und haben Spaß. Diese besinnliche Zeit lässt meine Welt in den Schatten rücken. All die Probleme klingen ab und sind in weiter Ferne. Ich flüchte mich gerne in diese heile Welt. Aber immer, wenn ich nach Hause komme, kommen die Gefühle wieder schlagartig zurück und ich falle aus meiner Blase, die ich mir geschaffen habe.

Ich habe meine Mutter noch einige Male vom Dachboden schleichen gesehen. Nun, da ich weiß, dass sie zu allem fähig ist und ich ihr nicht mehr blindlings vertraue, bin ich diejenige, die heute auf den Dachboden schleicht.
  „Welche Lügen hast du mir sonst noch aufgetischt, Mutter?", flüstere ich während ich die Treppen nach oben steige.

Am Dachboden ist es staubig und voller Spinnweben. Es hängen alte Laken über einigen Sachen und ich möchte gar nicht wissen, was sich alles darunter befindet. An der Wand befinden sich alte, dicke Bücher und daneben liegt mein Kinderspielzeug. Es ist voller Dreck und gehört eigentlich in den Müll. Der Boden knarzt ein wenig unter meinen Schritten und ich folge der Spur bis ich an einen großen Kasten angelange. Es riecht nach vermoderten alten Büchern und Stinkesocken. Die Fenster sind teilweise abgehängt und es kommen nur ein paar Strahlen Licht hindurch. Ich kann den Staub in der Luft herumschweben sehen und mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Ein großes Laken, dass auf dem Kasten hängt, schiebe ich beiseite und entdecke einen kleinen Durchgang im Kasten. An den Ecken hängen Spinnweben, die ich angeekelt zur Seite schiebe und hinter dem Kasten bleibe ich abrupt stehen. Jemand hat sich hier eine kleine Leseecke eingerichtet.
   Ich lasse meinen Blick über den großen Sessel mit Decken schweifen, weiter zu dem kleinen Tischchen auf der eine fast ausgebrannte Kerze steht, ein Feuerzeug und eine Box mit Briefen. Es sieht zwar alles alt aus, aber sauber und seltsam gemütlich. Ich finde sogar ein Foto von mir auf einer kleinen Kiste stehen und eine etwas größere Kiste mit Gegenständen. Meine Mutter hat sich ein kleines Versteck eingerichtet und da ich nun mal neugierig bin und ziemlich sauer auf sie, gehe ich zum Tisch, zünde die Kerze an und setze mich auf den weichen Sessel. So bleibe ich einige Minuten sitzen und denke nach. Soll ich wirklich in den Sachen meiner Mutter schnüffeln und ihr gut gehütetes Geheimnis herausfinden? Oder soll ich ein braves Mädchen sein und wieder verschwinden. Vielleicht hat sie aber auch gar kein Geheimnis und schwelgt mit alten Briefen in Erinnerung...

Ich atme einmal gut ein und aus, dann greife ich in die Box, die auf dem Tisch steht. Den ersten Briefumschlag den ich herausziehe ist der, der zuletzt ankam und eigentlich an mich adressiert war. Ich hatte mich gewundert, aber es nie so richtig hinterfragt. Der Brief war für mich. Stutzig greife ich noch einmal in die Kiste und hole wieder einen Brief der für mich bestimmt ist heraus. Der nächste ebenfalls. Alle Briefe gehören mir und ich habe nie nur einen einzigen gelesen. Was kann da drin stehen, dass mich meine Mutter nicht lesen lässt?
   Langsam wird mir mulmig und ich nehme den letzten Brief und mache ihn auf. Er liegt erst ein paar Wochen zurück und muss der neueste sein. Ich fahre der kurvigen Schreibschrift nach und dann beginne ich zu lesen. Während ich das tue, treibt es mir die Tränen in die Augen.

Liebes Binchen,
ich habe es immer noch nicht aufgegeben dir zu schreiben, wie du ja gerade liest und ich weiß irgendwann werden wir uns wiedersehen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich weiß nicht was deine Mutter dir erzählt hat aber...
...
...immerhin bist du meine Tochter und ich vermisse dich.

Evergreenstreet 23
2324 London

Alles Liebe, dein Vater
(ps: falls du Katharin, diese Briefe immer abfängst und Bine mir deshalb nie schreibt, bitte habe ein Herz und gib sie ihr, ich weiß, dass du irgendwann mal eines hattest)

Langsam lasse ich meinen Kopf zurück auf die lehne sinken und starre ins Nichts. Der Brief gleitet mir aus den Händen und fällt lautlos zu Boden. Dort im Staub ist er gut aufgehoben. Ich sollte ebenfalls nach unten sinken und mich begraben. Die Nässe, die meine Wangen ziert, ist kühl auf meiner erhitzten Haut. Ja, ich fühle mich so heiß, dass ich fast nicht mehr atmen kann. Es ist so als ob mich jemand in ein zu enges Korsett einschnürt und es immer weiter zu zieht.
Ein selbst geschriebener Brief.
Ich lese mir alle anderen Briefe durch und langsam lassen sie sich zu einem großen Bild zusammensetzen. Mein Vater hat uns nicht verlassen, weil er nicht mehr ertragen konnte, dass sie mich zu einem Star machen wollte. Er hat mich nicht freiwillig verlassen. Sie hatten immer Streit wegen den verschiedenen Vorstellungen wie meine Kindheit ablaufen sollte. Als mein Vater nicht mehr mitspielte und mit dem Jugendamt drohte, hat sie alle Sachen gepackt und ist mit mir umgezogen. Sie hat dafür gesorgt, dass er nie mehr in meine Nähe kommt. Sie hat gesorgt, dass er mich ihr nicht wegnehmen kann. Mit welchen Intrigen auch immer. Darin ist sie besonders gut. Aber als mein Vater herausgefunden hat wo wir wohnen, hat er begonnen mir Briefe zu schreiben, die meine Mom natürlich von mir geheim gehalten hat, damit die ganzen Lügen nicht auffliegen. Aber ich weiß jetzt alles. Ich weiß, dass er in London lebt und sich dort eine Firma aufgebaut hat. Ich weiß, dass er mich immer noch liebt und mich nie verlassen wollte. Es tut mir so unglaublich leid, alles....
  „Was machst du hier oben?"
„Ich weiß nicht, Mom.", sage ich leise, noch immer den Schock verdauend. „Ich weiß es wirklich nicht." Ich kann sie nicht ansehen. Ich will ihr nicht mehr in die Augen sehen. Ich weiß auch so, dass Horror in ihren Augen liegt, dass sie ihren Mund aufreißt um sich wieder herauszureden. Aber keines ihrer Worte kann irgendetwas verändern. Kein Wort kann ändern, dass sie mir meinen Vater vorenthalten hat und ich sogar dachte, er wäre hier der Böse.

„Bine... geht es dir gut?", fragt sie plötzlich besorgt und kommt zu mir.
Daraufhin lache ich. Sie kann sich doch wohl denken, dass es mir in diesem Moment überhaupt nicht gut geht. Ihre Hand, die den Weg zu meiner Schulter findet, schüttle ich ab. Ich kann das gerade nicht. Ich will nicht von ihr berührt werden.
  „Ich weiß es nicht.", gebe ich deshalb trocken von mir.
  „Es tut mir so leid, Bine. Aber es war doch nur zu deinem Besten. Alles war nur zu deinem Besten."
  „Ohja, deshalb geht es mir jetzt ja so gut."

Ich will einfach nur meine Ruhe haben und dort weitermachen wo ich aufgehört habe, als ich noch glücklich war.
Irgendwo hinter den Regenbogen und den rosaroten Wolken muss mein altes Leben versteckt sein und ich wünsche mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher als wieder dorthin zurückzukehren.

***

Ich habe keine Ahnung, ob ich schon jemals erwähnt habe wie Bines Mutter heißt. Aber jetzt heißt sie Katharin. 

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