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Taehyung Pov

Immer wenn ich hierher zurückkehre, beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Ist es grausam, an einem solch traurigen Ort Faszination zu verspüren? Das ist er in meinen Augen nämlich, ein trauriger Ort, vielleicht sogar der traurigste der existiert, denn hier wird dem ohnehin kurzen Leben der Menschen ein Ende gesetzt.

Für die meisten Menschen ist ein Leben unglaublich wertvoll, sie besitzen nur eines davon und doch spielen so viele von ihnen damit. Einige von ihnen werden wiedergeboren, aber das Leben, das sie einst hatten, werden sie nie wieder führen. Es ist genau so kompliziert, wie sie es als Wesen sind, so vielfältig, dass es mich Eifersüchtig macht. Sie haben die Chance so vieles aus ihrem Leben zu machen, auch wenn dieses Leben jede Sekunde vorbei sein kann. Ich allerdings existiere nur um ihnen beim sterben zuzusehen, eine Aufgabe, an die meine Existenz gebunden ist und dieser Ort erinnert mich daran.

Einige der Fäden erstrecken sich über den gesamten Raum, andere hingegen sind nur so lang wie der kleinste Finger einer Hand. So viele unterschiedliche Menschen mit so vielen unterschiedlichen Erfahrungen und so viele kurze Fäden, Menschen die bereits in solch einem jungen Alter sterben. Obwohl es unmöglich ist es heraus zu finden, frage ich mich, welcher dieser Fäden wohl Jungkook sein könnte.

Ich weiß nicht, wie lange er noch lebt, das weiß nicht einmal Atropos, sie weiß erst wann er stirbt wenn es soweit ist den Faden zu zerschneiden, aber wenn ich den Faden wenigstens sehen könnte, wenn ich sicher gehen könnte das es noch nicht so weit ist das er von alleine reißen und Jungkook einen qualvollen Tod bereiten könnte, das würde mir reichen. Ich möchte nur wissen, wie viel Zeit ich habe um ihn zu retten.

Ich zucke zusammen als ich das scharfe Geräusch einer Schere hinter mir wahrnehme, die durch etwas schneidet. Überrascht über ihr plötzliches auftauchen starre ich Atropos an, aber mein Blick wird ganz schnell auf was anderes gelenkt.

Es ist nicht nur ein Faden, den sie durchgeschnitten hat, es sind so viele, dass man sie gar nicht zählen kann. Die abgeschnittenen Enden fallen auf den Boden, nur um sich kurz darauf aufzulösen und wie Staub in der Luft zu verschwinden. Das ganze Leben eines Menschen, all die Erfahrungen in einem so dünnen und doch so starken Faden. So schnell kann es vorbei sein und ist der Faden erst durchschnitten, kann niemand ihn wieder herstellen, nicht einmal die Götter selber. Ein Leben ist das wertvollste Gut im Universum.

"Das hier ist nicht dein Reich, Taehyung", sagt sie ohne sich zu mir zu drehen und lässt die Hand mit der Schere sinken.

Ihre Worte treffen mich mehr, als sie es sollten, denn sie hat tatsächlich Recht mit dem, was sie gesagt hat. Ich bin weder Mensch, noch Gott, noch irgendetwas dazwischen. Ich bin ein Instrument der Götter, ungefähr sowie es Maschinen für Menschen sind und wenn es sein muss, kann ich auch ausgetauscht werden. Ich habe kein zu Hause, kein Ort an den ich zurückkehren kann, sollte ich jemals verschwinden, niemanden der auf mich wartet, aber bis jetzt hat mich das nicht gestört. Alles, was für mich zählte, war das erledigen meiner Aufgaben und dafür brauchte ich kein zu Hause, aber wenn ich jetzt an einen Ort denke, an den ich zurückkehren möchte, dann ist es meine Wohnung wo Jungkook auf mich wartet und genau deswegen bin ich hier.

Ich möchte nicht, dass man mir dieses zu Hause nimmt.

"Atropos...-"

"Du bist wieder wegen dem Jungen hier." Obwohl in diesem Raum ohnehin niemand außer uns war, habe ich das Gefühl, dass es noch stiller wird. Es scheint offensichtlich gewesen zu sein, zumindest offensichtlich genug für sie um es zu bemerken und doch überrascht es mich selber. Ich bin wegen Jungkook hier, schon wieder, aber warum? Wie kann sie es wissen, wenn ich die Antwort auf diese Frage selber nicht kenne?

"Ich verstehe es nicht", sage ich und schüttle den Kopf, obwohl sie mich nicht sehen kann. "Ich spüre dieses klopfen in meiner Brust, ich höre es und weiß du, was das komischste an dem ganzen ist? Jungkook hat es auch, genau an der Stelle, wo sein Herz sich befindet."

Vorsichtig, als könnte ich was auch immer dort klopft verschrecken, lege ich meine Hand auf meine Brust und versuche mich nur darauf zu konzentrieren, aber ich werde von Atropos abgelenkt. Sie hebt ihren Kopf an, den sie bis eben noch gesenkt hatte und dreht sich zu mir um. Ihre Augen sind weit geöffnet und die Stirn vor Verwirrung gerunzelt. "Du spürst und hörst es?"

Ich nicke. "Es schmerzt." Ich versuche ihr in die Augen zu sehen, aber sie weicht meinem Blick gekonnt aus. "Wenn er mir nahe kommt, wenn ich ihn berühre oder ihn lächeln sehe klopft es, es reicht sogar ein Gedanke an ihn um dieses ziehen zu verspüren. Es fühlt sich leicht an, so schön und zur gleichen Zeit schmerzt es wenn es ihm schlecht geht." Ich trete einen Schritt an sie heran, bis sie gezwungen ist mir in die Augen zu sehen um mich davon abzuhalten ihr noch näher zu kommen. "Wenn du ihm weh tust, tust du auch mir weh."

"Was verlangst du von mir?", fragt sie und sieht mich aufgewühlt an.

Ich weiß, wie wenig sie von mir hält. Sie hat nie groß etwas von den Richtern gehalten, aber mir gegenüber ist sie von Anfang an mit Abneigung begegnet, als wäre ich nichts weiter als einer von vielen denen sie eine solch große Aufgabe nicht zutraut und wahrscheinlich hat sie sogar recht. Ich bin zu schwach um über Menschen zu richten, ich bin zu schwach um ihnen beim sterben zuzusehen und diese Schwäche wird mein eigener Tod sein. Aber bevor es soweit ist, habe ich noch eine Aufgabe, eine Bitte, die sie mir trotz allem erfüllen muss.

"Rette ihn, Atropos."

Wenn ich könnte, würde ich sofort mein eigenes Leben gegen das seine tauschen. All die Jahre, die ich gelebt habe, würde ich ihm ohne zu zögern geben, wenn die Götter es zulassen würden, aber so einfach ist das nicht, das weiß ich. Das Schicksal lässt sich nicht so leicht überwinden und es lässt sich auch nicht von einem Menschen auf den anderen übertragen. Aber wenn mir jemand helfen kann, dann ist es Atropos, die einzige Person, die mächtiger ist als der Tod selber, denn sie kontrolliert ihn.

Sie ballt ihre Hand, in der die Schere liegt, so fest zu einer Faust, dass das scharfe Metall in ihre Haut schneidet und sie anfängt zu bluten, aber es scheint sie nicht zu interessieren und mich sorgt es nicht einmal einen Bruchteil so sehr, wie es ihr Kopfschütteln tut. "Was glaubst du kann ich tun? Ich kann ihn nicht retten, das liegt nicht in meiner Hand. Er ist ein Mensch, sie alle leben um zu sterben." Ich zucke zusammen als hinter ihr ein Faden reißt, aber sie lässt sich davon nicht beirren. "Wenn ich ihn vor dem Tod bewahre, beraube ich ihn seiner einzigen Existenzgrundlage."

Ihre Worte lösen in mir eine Lawine an Gefühlen aus, eine unter der ich begraben werde und die aus tausenden Messern zu bestehen scheint. Vielleicht verstehe ich es doch, die Furcht der Menschen vor dem Tod und die Hilflosigkeit, die sie verspüren, weil sie ihn nicht aufhalten können. Denn genau so fühle ich mich gerade, aber als ich den Mund öffne um etwas darauf zu erwidern, schüttelt sie nur den Kopf, schließt die Augen und öffnet sie kurze Zeit wieder mit dem üblichen ruhigen Ausdruck darin.

"Du scheinst vergessen zu haben, was die Welt der Menschen so schön macht", sagt sie und lässt die Schere in ihrer Hand fallen. "Alles hat ein Ende, selbst die Schönheit selber. Das ist es, was sie schön macht."

Afterlife |Vkook|Where stories live. Discover now