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Taehyung Pov

Es ist merkwürdig, wie Worte eine Situation, die man so bereits hunderte, ja tausende Male hatte, plötzlich vollkommen verändern können.

Jungkook ist nicht der erste Mensch, den ich aus der Nähe beobachte, er ist nicht der erste mit dem ich in Kontakt trete und mit dem ich eine Beziehung aufbaue um ein besseres Urteil fällen zu können, aber er ist der erste, bei dem das alles nicht bloß ein Schauspiel ist, nicht mehr.

Ich war nie der perfekte Richter, ironischerweise hatte ich stets das Gefühl, dass ich für diesen Job zu Gefühlskalt war. Wir unterscheiden uns äußerlich nicht von den Menschen, über die wir richten, aber wir verstehen sie nicht, verstehen ihren Schmerz, ihre Trauer, ihre Beweggründe nicht und doch wird genau das von uns erwartet. Wir haben keine Gefühle, denn wenn wir welche hätten, wären wir den Menschen zu ähnlich. Es war also nicht meine Schuld, ich bin so geschaffen worden und doch hat man mir immer gesagt es sei falsch, Dinge mit solch einer Kälte zu betrachten und Menschen ohne nachzudenken zu verurteilen.

Er sagte mir, dass ich sie verstehen müsste um über sie zu Urteilen, aber ich habe sie nie verstanden. Bis jetzt.

Ich weiß nicht, wann meine Fassade angefangen hat zu bröckeln, ich weiß nicht, wann der Übergang von der Lüge zur Wahrheit statt fand, aber ich weiß, dass der Schmerz den Jungkook fühlt, die Trauer die ich manchmal in seinen Augen erkenne und sogar seine Freude mein sind. Ich weiß, wie er sich fühlt wenn er Angst hat, vielleicht sogar besser als er tut weil ich mehr Angst um ihn habe als er es könnte und wenn er leidet, wenn er schmerzen fühlt, dann fühle ich sie merkwürdigerweise auch und trotz all dem bleibt mein Mund selbst nach Sekunden geschlossen.

Menschen handeln in den verschiedensten Situationen auf verschiedene Weisen, man kann nie voraus sagen was sie tun werden. Küsse können als Austausch von Gefühlen verwendet werden. Ich habe Menschen gesehen, die sich küssen und es Liebe nennen. Man sagt, dass man eine Person dann liebt, wenn man ihr Leben, ihre Sicherheit und ihre Freude über die eigene stellt. Ich habe nie wirklich über dieses Gefühl nachgedacht war es in meinen Augen das dümmste von ihnen, denn ich konnte es mir nie wirklich erklären.

Menschen sind selbstsüchtige Wesen, sie sind egoistisch und das einzige was sie von den Tieren unterscheidet ist der Verstand, aber ihr Wille zu überleben ist größer als alles andere in ihnen.

Wie kann es also sein, dass sie so etwas wie Liebe empfinden können, die all dem gegenüber steht? Wie kann es sein, dass ein simples Gefühl ihre ganze Natur zu Nichte macht?

Es ist nicht das erste mal, dass ich mit einem Menschen rede, es ist nicht das erste mal das ich einem gegenüberstehe und ich habe Menschen vorher auch schon berührt, ihnen die Hand gegeben, sie umarmt, aber noch nie war es wie jetzt. Noch nie habe ich einen Menschen geküsst und mir selber die Frage stellen müssen warum ich es getan habe.

Wir funktionieren für die Götter wie Computer für die Menschen, wir sind praktisch programmiert, Improvisation ist ausgeschlossen. Aber eine der wichtigsten Regeln eines Richters ist die, sich niemals aktiv in das Leben eines Menschen einzumischen. Wir dürfen mit ihnen reden, wir dürfen ihnen zu hören, sie trösten, aber wir dürfen nicht eingreifen in das, was für sie vorgesehen ist und ich habe genau das gemacht ohne es zu merken als ich diese Internetseite erstellt habe.

Ich habe die Gleisen, auf denen er fuhr, in eine komplett andere Richtung gelenkt und bei der Frage nach dem warum ist es genau wie mit dem Kuss, ich weiß es einfach nicht.

„Es tut mir leid, Jungkook", sage ich nach einer ganzen Weile der Stille und schüttle den Kopf. „Ich kann dir diese Frage nicht beantworten."

Im Laufe der Jahre habe ich gelernt das Menschen nicht nur körperlichen Schmerz empfinden und das die Seele viel mehr leidet als die Schale, in die sie gezwängt wurde. Liebe ist eine Sache, die der Seele Schaden kann, eine andere ist die Ungewissheit, die zerfrisst Menschen.

Wenn ich allerdings in Jungkooks Augen sehe, sehe ich keinerlei Anzeichen dafür das er von der Neugier zerfressen ist. Er scheint verwirrt, aber was auch immer ich erwartet habe trifft nicht ein. Er wirft mir nichts vor, dafür das ich ihn in mein Chaos ohne Erklärung geworfen habe, stattdessen tritt er einen Schritt nach vorne ohne den Blick auch nur eine Sekunde abzuwenden.

„Vertraust du mir, Taehyung?", fragt er leise als könnten die Wände uns belauschen und obwohl ich keine Ahnung habe was es heißt einem Menschen zu Vertrauen nicke ich.

Ich atme tief ein und halte die Luft an als er noch einen Schritt nach vorne tritt. Erneut spüre ich dieses merkwürdige kribbeln in meinem ganzen Körper. Mir wird warm, meine Hände und Beine fangen an unkontrolliert zu zittern und obwohl ich noch nie so schöne und lebendige Augen wie die seine gesehen habe, wende ich nervös den Blick ab und richte ihn auf die Flammen der Kerzen.

Fast habe ich vergessen das es so etwas wie atmen überhaupt gibt, bis er sich plötzlich nach vorne beugt und sein Gesicht auf meine Brust legt. Verwirrt sehe ich an mir nach unten und balle die Hände zu Fäusten damit er nicht bemerkt wie sehr ich tatsächlich zittere und was nicht nur seine Nähe sondern vor allem auch diese Berührung bei mir auslöst.

Es fällt mir unglaublich schwer einfach nur still da zu stehen während er sein Ohr auf meine Brust presst und scheinbar etwas zu lauschen scheint. Erneut vergehen Sekunden, gefühlt Minuten in denen er sich nicht regt und mit jeder einzelnen von ihnen wächst in mir ein Verlangen, das ich nicht so recht beschreiben kann. Meine Hände zittern nicht etwa aus irgendeinem belanglosen Grund wie Angst oder dem Gefühl von Kälte, sie zittern weil ich damit am liebsten durch sein Haar fahren oder ihn an mich ziehen würde.

Als er sich langsam wieder aufrichtet, mit einem Lächeln im Gesicht und einem glänzen in den Augen, geht es mir plötzlich auf wie ein Licht.

„Ich glaube, ich weiß warum du es getan hast", sagt er und nimmt meine Hand in seine. Langsam, als könnte er mich verschrecken, hebt er sie an seine Linke Brust und legt sie drauf. Erstaunt über das, was sich unter meiner Handfläche abspielt, öffne ich den Mund, aber was auch immer ich sagen wollte, ist vergessen.

Ich kenne dieses pochen, diese Wärme und dieses klopfende Geräusch, ich kenne es von meiner eigenen Brust, weil sich darunter genau das gleiche Chaos abspielt.

Langsam hebe ich den Blick und sehe ihm wieder in das Gesicht. Er scheint glücklich zu sein, so glücklich wie ich ihn noch nie gesehen habe. Das Lächeln in seinem Gesicht erreicht seine Augen, die aussehen, als hätten sie die Wärme des Lichts aufgefangen und ich erwische mich selber bei dem Gedanken, wie ich dieses Lächeln so lange wie nur möglich auf diesem wunderschönen Gesicht erhalten kann, was ich dafür tun muss ist egal und mit diesem Gedanken taucht auch wieder das Licht auf.

Das Bedürfnis jemandem Nahe sein zu wollen und seine Sicherheit, seine Freude, sein Leben über das eigene zu stellen, ich verstehe es plötzlich.

Ich verstehe das, was Menschen Liebe nennen.

Afterlife |Vkook|Where stories live. Discover now