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Taehyung Pov

Müde reibe ich mir die Augen und versuche nicht sofort wieder im stehen einzuschlafen als ich langsam und auf Zehenspitzen durch den Flur in die Küche schleiche. Der gestrige Abend war komisch, zumindest ist das das einzige Wort mit dem ich die Fahrt zurück hierher in meine Wohnung beschreiben kann. Ich habe ihm Dinge gesagt, die niemals gesagt werden sollten, weil es um Gefühle ging, um Ängste, die ich eigentlich nicht haben sollte und er hat es mit nur einigen wenigen Worten geschafft mich noch mehr in dieses ganze durcheinander zu ziehen.

Keiner von uns sprach ein Wort, es bliebt still und obwohl es so viel zu bereden gab, brachte keiner von uns einen Ton heraus, viel zu laut waren die Gedanken, die nicht ausgesprochen werden konnten. Ich weiß nicht, was er denkt, ich weiß nicht, was er fühlt, das ist eines der Nachteile, die Richter haben. Ihre Urteile basieren auf dem, was sie vom Verhalten eines Menschen mitbekommen, seine Gedankengänge, seine Motive und seine Gefühle bleiben ein Geheimnis.

Bis jetzt hat es mich nicht sonderlich gestört, ich konnte meinen Job trotz dessen immer gut erledigen, für mich waren Menschen immer durchschaubare Wesen, aber jetzt weiß ich, dass ich falsch lag. Sie sind unergründlich, sie sind kompliziert und ich würde alles dafür geben in ihre Köpfe sehen zu können nur um zu sehen, was Jungkook denkt. Ich war es, der ihn geküsst hat, ich war es, der ihn an sich gezogen hat und ich bin es, der nicht weiß ob das, was ich getan habe überhaupt so von ihm gewollt war.

Verwirrt runzle ich die Stirn als ich in die Küche trete und die beiden Kerzen auf der Kücheninsel brennen sehe. Richter benötigen eigentlich keinen Schlaf und sie schlafen für gewöhnlich nicht ein, weil jede wache Sekunde für ein Urteil wichtig ist und doch merke ich, wie ich mit jedem Tag Müder werde. Anfangs waren es nur einige Sekunden Schlaf die ich brauchte, aber mittlerweile sind es Stunden. Ich habe bis eben zwei Stunden geschlafen und obwohl ich glaube, dass ich noch länger hätte schlafen können, schaffe ich es nicht. Viel zu sehr beschäftigt mich der Gedanke an Jungkook, an das, was passiert ist und an die Veränderungen, mit denen ich konfrontiert werde.

Ich bin aufgewacht, weil ich nachdenken musste und ich habe mich langsam aus dem Schlafzimmer geschlichen, weil ich ihm nicht auch noch seinen Schlaf rauben wollte, aber hier steht er, über die Kücheninsel gebeugt, vor ihm ein Becher mit dampfender Flüssigkeit drin und die zwei brennenden Kerzen in der Mitte.

Überrascht hebt er den Blick, den er bis eben fasziniert auf die Flammen gerichtet hatte und richtet sich gerade auf. Er verschränkt die Hände hinter seinem Rücken ineinander und wendet sofort den Blick von mir ab, wie ein kleines Kind, das gerade bei etwas verbotenem erwischt wurde.

"Was tust du hier?", frage ich und suche im Raum nach einem Hinweis für das, was ihn um drei Uhr Morgens hier her getrieben haben könnte. Normalerweise ist Jungkook ein Langschläfer, der sich fünf Wecker stellen muss um überhaupt Wach zu werden, es ist also recht ungewöhnlich für ihn um so eine Uhrzeit wach zu sein.

"Ich konnte nicht schlafen." Er zuckt mit den Schultern und sieht mich erst wieder an, als ich nun ganz in den Raum trete und mich mit verschränkten Armen an den Kühlschrank lehne. "Habe ich dich geweckt?", fragt er und sieht mich entschuldigend an, aber ich schüttle den Kopf und bohre meine Fingernägel in meine Oberarme um mich selber davon abzuhalten zu ihm zu gehen und sein Gesicht in meine Hände zu nehmen.

"Ich wusste nicht einmal das du hier bist." Ich suche nach etwas anderem was ich ansehen kann um die Versuchung ihn zu Küssen oder auch nur zu berühren zu lindern, dabei fällt mein Blick wieder auf den Becher mit der dampfenden Flüssigkeit auf dem Küchentresen. "Was ist das?"

Er schnaubt und als ich hoch blicke um zu sehen
warum er das tut, hat sich ein lächeln auf seine eben noch vor Nervosität beinahe bebenden Lippen geschlichen. "Es ist warme Milch", sagt er und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. "Ich weiß, dass das dämlich klingt, aber irgendwie beruhigt es mich und ich kann meine Gedanken besser sortieren, wenn ich ins Feuer starre."

"Das klingt nicht dämlich", sage ich sofort und stoße mich vom Kühlschrank ab. Jungkooks Augen werden groß als ich näher an die Kücheninsel heran trete und obwohl ich nach wie vor sehe, wie er zittert, rede ich mir ein das es nicht der Angst vor mir geschuldet ist, sondern der Nervosität. Ich weiß immer noch nichts von den Menschen, weiß nichts über ihre Emotionen und wie sie sich voneinander unterscheiden, aber ich möchte es wissen.

Ich möchte wissen, was er fühlt, wenn ich in seiner Nähe bin.

"Sag es mir, Jungkook." Ich lasse seinen Blick nicht los während ich um die Kücheninsel herum auf ihn zu gehe und direkt vor ihm stehen bleibe. "Sag mir, was dich so beschäftigt."

Wie gerne würde ich die Hand heben, wie gerne würde ich ihm über die Wange streichen oder auch nur einen Finger auf seine Schläfe legen. Wenn man doch nur an den Kopf eines Menschen klopfen und einen Einblick in sein innerstes kriegen könnte, aber so einfach ist es nicht. Menschen sind die wohl faszinierendste Schöpfung der Götter, so genial und doch so zerbrechlich, jeder anders als der andere und in meinen Augen ist Jungkook der faszinierendste unter ihnen allen, vollkommen, für mich so viel mehr als nur Perfekt.

Er senkt den Kopf und sieht meine Hände an, die zu Fäusten geballt sind. Ich weiß nicht, wann ich das getan habe, es muss ein automatischer Mechanismus meines Körpers gewesen sein um mich davon abzuhalten ihn zu berühren. "Es ist eine Frage", sagt er und sieht wieder hinauf zu mir.

"Stell sie mir."

Ich sollte nicht so fordernd sein, ich sollte ihm sagen das er sich mir anvertrauen kann wann er will, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht länger die Geduld aufbringen kann, die ich mir selber wünsche. Jede Sekunde, jeder Atemzug könnte sein letzter sein und ich möchte erfahren, was in ihm vor geht, in der Hoffnung dadurch heraus zu finden was mit mir passiert und ob ich damit das verhindern kann, was die Menschen sein Schicksal nennen.

Seine Augen glänzen im Schein der Kerzen, seine Lippen sind gerötet, wahrscheinlich von der warmen Milch auf dem Tresen und die wenige Geduld, die ich noch besitze spannt sich an wie die Fäden von Atropos.

Ich dachte, zu erfahren was diese Schlaflose Nacht für ihn verursacht wäre erleichternd, weil ich dadurch meinem Ziel näher komme ihn und seine Gefühle zu verstehen, aber stattdessen wirft es selbst mich aus der Bahn, weil es eine Frage ist, auf die ich selber keine Antwort kenne.

"Warum hast du mich geküsst, Taehyung?"

Afterlife |Vkook|Where stories live. Discover now