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Taehyung Pov

Verzweifelt werfe ich erneut einen Blick auf das vom Regen völlig durchnässte Papier und werfe es wütend über mich selber auf den Boden. Die Tinte ist vollkommen in sich verlaufen, es war kaum mehr ein Wort zu erkennen und obwohl ich genau weiß, was da drauf steht, brauche ich die Bestätigung. Er hat geschrieben, dass er hierher kommen würde um seinen Kopf frei zu bekommen, weil er das öfter macht, aber ich bin bereits seit zwanzig Minuten in diesem verdammten Park, der einem Labyrinth gleicht und bisher gab es keine Spur von ihm.

Es regnet in Strömen und das bereits seit Stunden, aber die Sorge, dass er sich erkälten könnte ist viel geringer als die, dass er sich verletzen oder noch schlimmer, dass Atropos seinen Faden durchschneiden könnte. Mir ist klar, dass ich es nicht aufhalten kann, selbst wenn ich bei ihm bin, aber der Gedanke daran, dass er alleine ist, wenn es soweit ist, macht mich wahnsinnig. Er ist noch nicht bereit dafür, es ist viel zu früh, aber das schlimmste ist, dass ich selber nicht bereit dazu bin. Ich kann ihn noch nicht gehen lassen, nicht wenn ich noch nicht einmal richtig versucht habe das, was Menschen Schicksal nennen, aufzuhalten.

Ich vergrabe meine Hände aufgewühlt in meinen nassen Haaren und drehe mich noch einmal um mich selbst, auf der Suche nach irgendeiner Menschenseele, die mir vielleicht helfen könnte, aber um diese Uhrzeit streift kaum einer durch die Straßen und vor allem nicht durch diesen Park. Ich verstehe, warum er hier so gerne spazieren geht, die Laternen beleuchten jede Ecke, sodass es auch nicht wirklich gruselig wirkt, aber hat man nicht dennoch irgendwie Angst?

Er kann es nicht besser wissen, kein Mensch kann das. Sie leben in der ständigen Ungewissheit was als nächstes passieren wird und sie leben mit dem Druck, dass jede Entscheidung ihr Ende beeinflussen könnte. Wenn ich wüsste, wie Jungkook sterben soll, wenn ich wüsste, was seinen Faden dazu bringt sich so sehr anzuspannen, dann könnte ich es verhindern. Ich verstehe nicht, wie die Menschen das aushalten, ich verstehe nicht wie sie an der immerwährenden Ungewissheit wachsen statt daran zu zerbrechen, denn ich habe gerade das Gefühl verrückt zu werden. Mit jeder Sekunde, die ich durch die Gegend wandere, wächst in mir das verlangen zu Schreien um meiner Hilflosigkeit Luft zu machen.

Ich beiße die Zähne aufeinander, balle die Hände zu Fäusten und ignoriere das mir bisher so unbekannte Gefühl von Kälte, verursacht durch die Nässe und die niedrigen Temperaturen. Seit ich damit beauftragt wurde über Jungkook zu richten, hat sich so vieles verändert. Das pochen und der Schmerz in meiner Brust, meine Wahrnehmung, Emotionen, Reaktionen, das alles habe ich jetzt erst kennen gelernt und ich weiß auch, dass es nicht nur der Regen ist, der mein Gesicht befeuchtet, sondern das es die ersten Tränen seit dem Beginn meiner Existenz sind.

Obwohl auch das nicht ganz richtig ist, ich habe schon einmal geweint, nur einige Monate nach meiner Schaffung. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, was damals passiert ist, aber was ich weiß ist, dass der Richter, der damit beauftragt war mich das Richten zu lehren, so schockiert davon war, dass er sagte ich solle es nie wieder tun. Er schrie mich an, sagte mir das ein Richter nicht weinen könnte und das die Götter mich bestrafen würden wenn sie es heraus fänden, also sollte ich es vergessen und tatsächlich habe ich das fast, bis jetzt.

Aber wie könnte ich vergessen, was für ein grausames Gefühl es ist, sich so Hilflos und alleine zu fühlen, dass Tränen dir bereits Gesellschaft leisten müssen? Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll und um ehrlich zu sein möchte ich das auch nicht. Ich möchte davon befreit werden, ich möchte das nicht fühlen müssen. Kälte, Angst und der Schmerz in meiner Brust, es sind alles Dinge die vollkommen neu für mich sind und mit denen ich nicht klar komme. Niemand hat mir gesagt, das ein Richter sowas fühlen müsste, also warum tue ich das?

Warum habe ich solche Angst um diesen Menschen?

"Taehyung?"

Ich hebe erschrocken den Kopf und reiße die Augen auf. Wie vertieft war ich in Gedanken? Wie lange stand ich regungslos inmitten des Parkes ohne mich auch nur ein Stück zu bewegen? Ich löse meine Hände, die ich die ganze Zeit über zu Fäusten geballt hatte und öffne die Lippen als ich den Kopf zur Seite drehe und ihn tatsächlich sehe.

Erleichtert atme ich aus und öffne die Lippen um etwas zu sagen, aber es wandert kein Wort über sie. Sie zittern nach wie vor, die kälte beißt sich durch meinen Pullover, der an meinem Körper klebt und wandert bis in meine Knochen, aber es ist ein willkommener Schmerz im vergleich zu dem, der sich bis jetzt in meiner Brust abgespielt hat. Von einem Moment auf den anderen wird dieser aber von etwas intensiverem abgelöst, von etwas, was sich anfühlt wie wärme und mich vollkommen überwältigt.

Er hat die Stirn gerunzelt und sieht mich fassungslos an. Es braucht eine Weile, bis er realisiert, dass ich es tatsächlich bin, was wahrscheinlich an meiner fehlenden Antwort liegt, denn ich stehe einfach nur da und sehe ihn an, nicht in der Lage zu glauben das er vor mir steht, gesund und ohne irgendeinen Kratzer.

"Bist du verrückt geworden?", ruft er über die Distanz zu mir rüber und kommt mit großen Schritten auf mich zu. "Hast du den Wetterbericht nicht gesehen?"

Ich ignoriere das gesagte und nutze jede Sekunde um ihn genau zu mustern, von seinen Beinen, seinem Gang, bis hinauf zu seinem wunderschönen Gesicht, das ich in der Dunkelheit stets vor mir sehe. Wie kann ein Mensch solch eine Macht über eine andere Person besitzen? Die Götter schufen sie ohne irgendwelche Fähigkeiten, mit scharfem Verstand und Intelligenz, aber das hier ist mehr als nur irgendetwas von den Göttern gegebenes, es ist etwas viel mächtigeres, denn nicht einmal sie hätten wissen können, dass die Menschen zu so etwas in der Lage sein könnten.

Ich erinnere mich daran, dass Atropos vor vielen Jahren davon sprach, beim ersten Mal als ich bei ihr war. Sie sagte, dass der schlimmste Tod nicht etwa der sei, wenn der Faden sich soweit anspannt das er von alleine reißt. Es ist schmerzvoll und quälend, aber wenn der Tod kam, war es vorbei. Nein, der schlimmste Tod ereilt die Menschen, die niemals die Chance gehabt hätten vorher zu lieben.

Zu diesem Zeitpunkt waren erst siebzehn Jahre seit meiner Schaffung vergangen und ich war dort um zu lernen, dass der Tod für die Menschen ein notwendiger Bestandteil ihrer Existenz ist, aber stattdessen lernte ich etwas, was ich erst jetzt verstehe. Das Wort Liebe war mir vollkommen Fremd, ich wusste nicht wie es aussah, wusste nicht wie es sich anfühlte und wie ich es bekommen konnte und als ich Atropos fragte, sagte sie lediglich, dass es Wesen wie uns verwehrt sei. Die Liebe ist töricht und sie ist schmerzhaft, jemand der nicht einmal wusste wie Schmerz sich anfühlte, hätte sie nicht verdient.

Aber hier stehe ich, mehr als ein Jahrhundert später und das was ich verspüre ist schlimmer als der Schmerz, den man mir beschrieb. Die Liebe, von der sie sprach, die, die den Tod Wert gewesen wäre, ist es dieses erdrückende, aber gleichzeitig leichte, wunderschöne Gefühl das sich seit ich Jungkook das erste mal begegnet bin breit macht? Ich verstehe es nicht, weil es nicht sein kann und doch ist es da.

"Taehyung", sagt Jungkook erneut meinen Namen als er so nah vor mir stehen bleibt, dass der Regenschirm in seiner Hand uns beide bedeckt. Ich zucke zusammen als er seine Hand auf meine Wange legt und die Stirn besorgt runzelt. "Du bist eiskalt, wir sollten nach Hause gehen bevor du mir noch weg stirbst." Mit dem Daumen streicht er sanft über meine Wange und schenkt mir ein glückliches, aber besorgtes lächeln.

Seine Lippen sind rot, genau wie seine Wangen und seine Nase. Er muss bereits eine ganze Weile hier draußen sein und durch die Gegend laufen und doch fühlt sich seine Hand auf meiner Wange so warm an, dass ich nicht möchte das er sie dort weg nimmt. Ich möchte gar nicht mehr, das er mich los lässt.

Liebe kann Gefangenschaft bedeuten, wenn man sie dem falschen Menschen schenkt, sagte Atropos einst. Aber sie kann befreiend sein wenn es der richtige ist.

Ich hebe langsam meine Hand und lege sie um seine, die den Regenschirm festhält. Woher wissen Menschen, dass sie den richtigen Partner gefunden haben?, fragte ich Atropos damals und sie lächelte, als hätte sie mit dieser Frage gerechnet. Sie wissen es nicht, sie fühlen es.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie verwirrt ich war, aber ich fragte nicht weiter. Wenn Menschen fühlen können, wer der richtige ist, wieso lassen sie sich dann so oft auf den falschen ein, habe ich mich damals gefragt, aber ich weiß jetzt genau, was sie meint. Es reicht ein einziger Blick in seine Augen um zu wissen, was das Lächeln in ihrem Gesicht damals bedeutete und es reicht ein Blick von ihm um mich vollkommen an sich zu binden.

Ohne auch nur einen Moment weiter an meine Pflicht und die Konsequenzen, die meine Handlungen für mich mit sich bringen könnten nachzudenken, beuge ich mich nach vorne. Das kleine bisschen, was ich noch an Verstand besitze, schalte ich aus und spätestens als meine Lippen auf seine treffen, ist es unmöglich für mich sich noch länger zu beherrschen.

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