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Taehyung Pov

Ich dachte, das ich ein paar antworten bekommen würde, aber stattdessen habe ich jetzt nur noch viel mehr Fragen als vorher. Seit ich existiere, wurde mir klar gemacht, dass ich keinerlei Rechte habe. Alles, was von mir verlangt wird, ist eine Entscheidung, eine die ich auch Begründen muss und die den Menschen Gerecht wird. Aber erst jetzt fange ich an mich zu fragen, welches Recht ich habe über einen Menschen zu richten, ohne zu wissen, was Menschlichkeit überhaupt ist.

Wir Richter sind nur ein Instrument der Götter, ein Faden in einem großen Netz und wir sind mehr als nur vorteilhaft für sie, denn wir können jederzeit ersetzt werden. Ich weiß, dass ich mich mit meinen ganzen Fragen selber in Gefahr bringe, aber ich kann nicht anders. All die Dinge, die in der letzten Zeit geschehen, die Veränderungen in meinem Körper und die daraus resultierende Verwirrung lassen mir keine Ruhe.

Atropos hat mir nur auf eine einzige Frage eine Antwort gegeben, nämlich auf die von der toten Frau im Auto, das auf Jungkook zugerast ist. Ich weiß, dass es ihr tun war, aber sie hat mir versichert, dass die Frau vor dem Unfall bereits tot war. Sie hatte ihren Faden wenige Sekunden zuvor zerschnitten, es war ein Herzstillstand, der sie am Steuer getötet hatte und obwohl es das noch lange nicht rechtfertigt, darf ich nichts dagegen sagen. Es ist Moralisch verwerflich, aber Moral ist letztendlich eine Sache der Menschen, nicht unsere.

Ich schüttle den Kopf und versuche dieses Treffen aus meinem Kopf zu bekommen als ich vor der Tür meiner Wohnung ankomme. Es ist eine ganze Weile her, seit ich Jungkook gesagt habe ich würde kurz einen ehemaligen Schulkameraden treffen, der zu Besuch in der Stadt ist, um genau zu sein ganze 10 Stunden, aber selbst nach dem Gespräch mit Atropos und der Rückkehr in die Menschliche Welt, konnte ich nicht direkt wieder hierher kommen. Es fühlte sich schrecklich an, nach allem was passiert ist, hierher zurück zu kommen und Jungkook unter die Augen zu treten, denn mit jedem Tag der vergeht, fühlt sich das, was ich tue, immer mehr wie Verrat an.

Es ist das erste mal, dass ich wirklich intensiv darüber nachdenke, ob es das richtige ist über einen Menschen zu richten. Seit so vielen tausenden Jahren kämpfen diese für das Recht über sich selber bestimmen zu dürfen und doch haben sie in einer so wichtigen Angelegenheit wie dem Tod kein Mitspracherecht. Menschen waren nie frei und sie werden auch nie wirklich frei sein, dafür sorgt ihre Menschlichkeit selber bereits.

Viel zu oft habe ich in den letzten Tagen darüber nachgedacht Jungkook von allem zu erzählen, aber wenn ich es dann konnte, habe ich es nicht getan. Ich habe keine Angst vor meinem Verschwinden, keine Angst vor dem Nichts, das es für mich bedeutet, aber ich habe Angst um ihn. Wenn nicht ich über ihn richte, wird es jemand anderes tun und dieser jemand wird nicht alles dafür tun, seinen Tod zu verhindern. Wenn ich aufhöre zu existieren, wird Jungkook sterben und diesen Gedanken ertrage ich nicht.

"Jungkook", rufe ich seinen Namen als ich die Wohnung betrete und die Tür hinter mir schließe. Blind taste ich die Wand nach dem Lichtschalter ab und seufze erleichtert als ich ihn nach einigen Sekunden, die sich anfühlen wie eine Ewigkeit, finde. Den Schlüssel stecke ich zurück in meine Jackentasche und will diese gerade ausziehen als mir etwas auffällt.

Jungkook ist von Natur aus kein schüchterner Mensch, ansonsten könnte er den Beruf des Anwalts nichts ausüben, aber er war es dennoch die ersten Tage nach seinem Einzug hier. Es schien, als wäre er es nicht gewohnt anderen Menschen zu vertrauen, was kaum verwunderlich ist, wo die einzigen Bezugspersonen, die er bisher hatte, seine eigene Familie war. Es fiel ihm schwer zu sagen, wenn er etwas brauchte, das einzige mal wo er das getan hat, war in der ersten Nacht.

Er sagte, dass er es hasste alleine im Dunkeln zu sein. Ich erinnere mich noch ganz genau an sein zittern unter der warmen decke und an seine schnellen Atemzüge. Das war nicht nur Hass, es war Angst, er fürchtete die Dunkelheit aus irgendeinem Grund oder er fürchtete sie viel eher, wenn er alleine war, denn als ich mich neben ihn in das Bett legte und er sich sofort an mich klammerte, fing er an sich zu beruhigen.

Ich habe ihn danach nicht darauf angesprochen, weil ich dachte, dass er es mir irgendwann von alleine erzählen würde, wenn es für ihn wichtig war und obwohl er es bisher noch nicht getan hat, glaube ich trotzdem, dass er es irgendwann tun wird.

Aber das hier, die vollkommen dunkle und stille Wohnung, passt nicht zu dem, was damals passiert ist. Jedes Mal, wenn ich ihn alleine ließ und zurück kam, war überall das Licht und sogar der Fernseher an. Dunkelheit, Einsamkeit und Stille, das sind Dinge, die ihn aufwühlen und die er nicht erträgt, er würde es niemals freiwillig über sich ergehen lassen.

"Jungkook", rufe ich lauter, stürme durch den Flur direkt in das leere Wohnzimmer und lasse meinen Blick durch die offene Küche schweifen. Ich weiß, dass er nicht hier sein kann und doch ist da diese winzig kleine Hoffnung das er es doch ist und das er sich lediglich irgendwo vor den Dämonen versteckt hat, die er in der Dunkelheit zu sehen glaubt, aber spätestens als ich ihn in meinem Zimmer nicht finde, ergreift die Verzweiflung vollkommen Besitz von mir.

Er kann nicht einfach verschwunden sein, das weiß ich, er hat die Wohnung wahrscheinlich freiwillig verlassen und dennoch bin ich wütend. Nicht auf ihn, er kann nicht wissen in welcher Gefahr er sich befindet, aber auf mich selber. Ich bin wütend, weil ich nicht daran gedacht habe, weil ich ihn quasi der Gefahr ausgeliefert habe, die Atropos jederzeit für ihn bereit hält oder noch schlimmer, dem Tod, der auf ihn wartet.

Ich balle die Hände zu Fäusten und trete voller Wut gegen die Kommode, die rechts neben mir tritt. Ich spüre den Schmerz, der durch meinen Zeh in meinen ganzen Körper tritt, aber ich kann mich gar nicht lange genug darauf konzentrieren, denn ich werde von dem Zettel abgelenkt, der von der Kommode auf den Boden fällt.

Verwirrt starre ich ihn eine Weile nur an bevor ich mich hin knie und ihn auf hebe. Mein Herz fängt an schneller zu schlagen als ich die Handschrift darauf erkenne und aufspringe noch bevor ich überhaupt gelesen habe, was da drauf steht. Jungkook scheint mir nicht wie jemand, der mir einen Liebesbrief verfassen würde, aber ich glaube durchaus, dass er sich an meine Worte vom Tag seines Einzugs erinnert.

Ich umklammere den Zettel in meiner Hand fest als sich meine Vermutung nach dem Lesen bestätigt und laufe sofort wieder auf die Tür zu. Keiner, nicht einmal Atropos selbst weiß, wann die Menschen sterben. Alles was sie spürt sind die Fäden, die sie zum richtigen Zeitpunkt zerschneiden muss, aber wann sie es tun muss weiß sie erst, wenn es soweit ist. Ich weiß nicht, wann er stirbt, weiß nicht ob es heute oder vielleicht sogar jetzt so weit ist, aber das macht das ganze für mich nur noch schlimmer. Jede Sekunde, die ich nicht bei ihm bin, könnte seine letzte sein.

Afterlife |Vkook|Where stories live. Discover now