Teil 18

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Mary Henk

Mein Vater zögerte, als wollte er mir diese Frage nur ungern beantworten.

William ist einer meiner ersten Patienten gewesen., sagte er ernst. Die Falten auf meiner Stirn verstärkten sich.

Wer ist denn William?, hakte ich weiter nach. Ich hörte meinen Vater seufzen.

William Graham.

Mir entwichen sämtliche Gesichtszüge. Mr. Graham!? Der Patient meines Vaters gewesen?

Mr. Graham?!, fragte ich entsetzt. Im selben Moment hörte ich Schritte, die immer näher kamen. Mir fiel das Handy aus der Hand auf die harten Stufen, als Mr. Graham plötzlich vor mir auftauchte und mich mit undefinierbarem Blick anstarrte. Ein besseres Timing hätte er wirklich nicht treffen können.

"Was machst du denn hier?", fragte er sofort, als er mich entdeckte. Ich war so überrascht, dass ich mich erstmal sammeln musste, bevor ich antworten konnte. Unauffällig tastete ich nach meinem Handy, um den Anruf zu beenden.

"Ich hab' telefoniert.", sagte ich heiser. Man konnte mir mit Sicherheit ansehen, dass ich eben geheult hatte. Mr. Graham sah mich noch immer an, als wäre ich eine Aussätzige - ich hoffte so sehr, dass er mich eben nicht gehört hatte, als ich mit meinem Vater gesprochen hatte.

Langsam nickte er. Noch immer stand er unschlüssig vor der Wendeltreppe und versuchte wohl mich irgendwie zu durchschauen. Allmählich wurde ich mir sicher, dass er gehört haben musste, wie ich eben seinen Namen gerufen hatte, das erklärte zumindest seine Mimik.

"Ist alles okay?", fragte er schließlich. Seine Stimme klang ruhig und trotzdem unsicher. Seine Augen versuchten krampfhaft mich anzusehen, doch es gelang ihnen nicht. Wie ich schon vom ersten Moment an bemerkt hatte, fiel ihm Augenkontakt ziemlich schwer. Ich konnte ihn nicht ansehen ohne mir die Frage zu stellen, weshalb er wohl damals Patient meines Vaters gewesen sein könnte. Zu einem Psychologen ging man zumindest nicht grundlos. Wobei man womöglich bei jedem Menschen etwas finden könnte, was Grund für eine Therapie wäre.

Noch immer hatte ich ihm keine Antwort gegeben, was mir erst jetzt bewusst wurde.

"Alles super.", log ich, was er mir natürlich sofort ansah. Es war seltsam hier zu sitzen und zu ihm aufzusehen, doch aufstehen wollte ich auch nicht.

Er nickte nur, so tuend, als hätte ich die Wahrheit gesagt. Was sollte er auch sonst tun? Sich neben mich setzen und mich trösten? Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich mir eigentlich genau das wünschte. Jemanden, der sich jetzt zu mir setzte, und mich in den Arm nahm. Allerdings wäre Mr. Graham da wohl der Letzte, der infrage käme.

"Am Besten gehst du zurück zu den Anderen.", schlug er freundlich vor, stieg die Stufen hinauf, an mir vorbei und verschwand nach oben. Regungslos blieb ich sitzen. Irgendwie wollte er mir einfach nicht aus dem Kopf gehen, ich wollte alles über ihn wissen. Alles, was ihm in seinem Leben schon passiert war. Alles über seine Familie, alles über seine Diagnose. Ich riss mich selbst aus meinen Gedanken. Das alles ging mich absolut nichts an.

Abrupt stand ich auf, griff nach meinem Handy und meiner Jacke, auf der ich gesessen hatte und eilte zurück nach draußen. Ich musste jetzt dringend den Kopf frei bekommen. Von Sean. Und von Mr. Graham...

Noch immer saßen alle am Feuer, als ich zurückkam. Mr. Johnson erzählte einen Witz nach dem Anderen und brachte so die Mehrheit zum Lachen. Ich ließ mich neben Emma nieder, die mich daraufhin kurz anlächelte. "Alles gut?", fragte sie. Ich nickte grinsend. Zum Glück konnte im Dunkeln eh keiner sehen, dass mein Gesicht sich noch immer nicht ganz von den Tränen erholt hatte. Und zum Glück konnte auch keiner sehen, was in meinem Kopf vorging.

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"Guten Morgen." begrüßte Mr. Graham mich, als ich am nächsten Morgen müde den Weg zum Essenssaal aufsuchte. Wir waren auf der Treppe aufeinander getroffen. Ich lächelte verschlafen.

Ich hatte mir gestern noch geschworen aufzuhören über ihn und sein vergangenes Leben nachzudenken und nun begann ich augenblicklich wieder, mir alles auszumalen. Was hatte dieser Mann erlebt?

Ich erhöhte mein Schritttempo, um nicht mehr neben ihm laufen zu müssen. Er musste ganz schnell wieder aus meinem Kopf verschwinden.

Kurz bevor ich den Saal erreicht hatte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Sofort riss ich mich rum. Mein Magen drehte sich gefühlt im Kreis, als ich Sean vor mir stehen sah. Sein übliches Grinsen zierte sein hübsches Gesicht. Ich konnte mich nicht rühren, alles schmerzte in mir.

"Hey.", sagte er leise. Ich starrte ihn schweigend an. Kein einziges Wort konnte ich rausholen. Besorgt legte er seine Stirn in Falten. "Ist alles in Ordnung?"

Mein Atem wurde schwerer. Dieser Kerl hatte mich so sehr verletzt, ohne es zu wissen. Und das auch noch, ohne eigentlich was getan zu haben. Ich war schließlich diejenige, die sich viel zu schnell in ihn verguckt hatte.

Im Augenwinkel sah ich, wie Mr. Graham an uns vorbei ging und auf den Speisesaal zusteuerte. Er schien uns gar nicht bemerkt zu haben, sonst hätte er mich womöglich nicht einfach mit Sean hier zurückgelassen. Alle schienen jetzt schon im Saal zu sitzen. Alle, außer mir.

Sean's Blick ruhte noch immer fest auf mir, als ich es endlich schaffte, mich zu äußern.

"Mir geht es gut. Ich muss weiter, wir sehen uns später." Meine Stimme versagte, mein Gesicht glühte. Ohne auf eine Antwort zu warten ließ ich ihn perplex stehen. Nur mit Mühe konnte ich gegen die Tränen kämpfen. Mit gesenktem Blick steuerte ich direkt auf den Tisch zu, an dem meine Freunde saßen, ließ mich auf einen Stuhl fallen und starrte versunken in die Luft. Wieso mussten mir Menschen immer so verdammt schnell ans Herz wachsen? Ich würde Sean nach dieser Reise sowieso nie wieder sehen. Egal, ob er mich als seine Freundin gewollt hätte, oder nicht.

Das Essen verging, wir verschwanden auf unseren Zimmern, packten wieder unsere Rucksäcke und trafen uns wie am Vortag draußen, um unseren Tagesausflug anzutreten. Meine Lust hielt sich in Grenzen, wobei ich froh war, Sean wenigstens den Tag über nicht mehr sehen zu müssen.

Während wir wieder auf unseren Bus warteten, schrieb ich meinem Vater. Immerhin war ich ihm wegen gestern noch eine Erklärung schuldig, er hatte sich sicher Sorgen gemacht, als ich einfach aufgelegt hatte.

Ich versprach ihm, später nochmal anzurufen. Schon jetzt überlegte ich mir, mit welchen Fragen ich ihn durchbohren würde. Selbstverständlich durfte er mir nichts über Mr. Graham's Fall verraten, wenn man die Schweigepflicht berücksichtigte. Doch ich kannte meinen Vater und ich wusste genau, wie ich zumindest einige Antworten aus ihm herauskitzeln konnte.

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