Teil 23

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Eine halbe Stunde hatte ich sicher schon hier am Boden gesessen. Heulend. Doch allmählich wurde mein schluchzen leiser, bis es endgültig verstummte.

Alle anderen amüsierten sich gerade unten, im Keller des Gebäudes, während ich hier oben saß. Wegen Mr. Graham. Verdammt. Von Null auf Hundert hatte er sich einen Weg in meinen Kopf gebahnt, und dort saß er jetzt fest. Viel zu fest.

Langsam richtete ich mich wieder auf, wischte mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht und suchte einen Spiegel auf.

Ich sah, wie zu erwarten war, furchtbar aus.

Schnell wandte ich meinen Blick von meinem Spiegelbild ab, bevor ich anfangen konnte mich noch stärker selbst zu bemitleiden.

Mich plagte noch immer ein schreckliches Gefühl. Ich hatte Mr. Graham einfach zurückgelassen, ohne zu wissen, ob sein Zustand überhaupt stabil genug gewesen war, um ihn allein zu lassen. Nicht mal Mr. Johnson hatte ich Bescheid gegeben.

Meine Miene verfinsterte sich. Wenn der Mann jetzt halb tot im Zimmer lag, war das Ganze tatsächlich meine Schuld. Mein Magen drehte sich. Das konnte ich sicher nicht über mich ergehen lassen.

Ich verwarf jegliche Schüchternheit, jeglichen Zweifel und riss die Tür zu meinem Zimmer auf, nur um wenig später den langen Flur entlang zu joggen.

Was zur Hölle tat ich da eigentlich? Meine Vernunft schaltete sich vollkommen aus. Ich blieb atemlos vor der verschlossenen Tür stehen, vor der ich vorhin schon mit ganz ähnlichen Gefühlen gestanden hatte.

Meine Hand zitterte, als ich sie hob, um sachte gegen die Tür zu klopfen. Erst jetzt zog ich in Betracht, dass Mr. Johnson sich inzwischen vielleicht ebenfalls aufs Zimmer begeben hatte. Und was würde er bitte denken, wenn ich plötzlich einfach vor der Tür stand? Mein Herz drohte zu explodieren, vor allem, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.

Er stand vor mir, das Hemd hatte er durch ein weißes T-Shirt ersetzt. Seine Haare lockten sich verschwitzt einige Millimeter von seinem Kopf empor, mehr als üblich zumindest. Obwohl er so elendig aussah, sah er doch viel zu gut aus. Ich ohrfeigte mich innerlich für diese Gedanken, doch es war nunmal die Wahrheit.

"Mary.", hauchte er, als hätte er kaum Kraft zum reden übrig. Er schien alles andere als begeistert, mich erneut anzutreffen, was mir nur ein noch schlechteres Gefühl machte.

Er stand im Spalt zwischen Tür und Türrahmen, als wollte er die Tür jeden Augenblick wieder schließen. Seine Augen starrten mich an, ohne mich aber wirklich anzusehen. Sein Blick wirkte leblos, was allerdings nichts neues war.

Ich schluckte.

"Ich... wollte mich nur vergewissern, ob sie noch leben.", flüsterte ich mit sarkastischem Unterton. Die Schüchternheit hatte mich nun doch wieder ziemlich übermannt.

Ein schwaches Lächeln huschte auf seine Lippen. Womöglich hielt er mich nun für wesentlich seltsamer als Joana, und das war eigentlich kaum möglich.

"Mir geht es gut.", sagte er knapp, und ziemlich forsch, als wollte er mich mit diesen Worten sofort loswerden.

Ich nickte.

"Ich wollte nur nicht-""Ist schon in Ordnung.", unterbrach er mich. Sein Lächeln verstärkte sich etwas. Es schien so, als versuchte er mich damit ein bisschen aufzuheitern. Es gelang ihm, denn ich lächelte nun ebenfalls.

Einige Sekunden standen wir schweigend voreinander, sodass die Situation noch peinlicher wurde, als sie ohnehin schon war. Eigentlich wäre jetzt der Moment gewesen, in dem ich mich hätte verabschieden müssen, um zurück zu den Anderen zu kehren, doch mehr als alles andere wollte ich jetzt hier bleiben. Hier bei ihm.

Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er mir gerade wirklich in die Augen sah, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er mich richtig wahrnahm, richtig durchblickte. So sehr, dass es sich anfühlte, als würde er plötzlich alles über mich wissen. Er legte den Kopf ein wenig schief, unbewusst schätzte ich. Umso länger ich ihn ansah, umso attraktiver wurde er in meinen Augen, und ich konnte nicht das Geringste dagegen machen. Mein Blick wanderte zu seinen Lippen, die sicherlich ziemlich gut zu küssen waren und sofort schüttelte ich diesen Gedanken ab. Ach verdammt, William. William...

"William.", kam es vollkommen unerwartet aus meinem Mund. Ich war so überrascht, dass ich gar nicht genau wusste, ob ich den Namen gerade wirklich laut ausgesprochen, oder doch nur gedacht hatte. Doch die Reaktion meines Gegenübers verriet mir die Antwort. Scheiße, wie konnte das passieren? Mein Gesicht glühte, am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Peinlicher konnte es doch gar nicht mehr werden.

Er sah mich an. Etwas undefinierbares lag in seinem Blick. Ich konnte nicht erahnen, ob er wütend, belustigt oder gelassen war. Jetzt wäre eindeutig der Moment, in dem ich gehen sollte.

"Woher-", er stoppte sich selbst. Seine Stirn legte sich in Falten, als würde er kurze Zeit tief in Gedanken versinken. Mein ganzer Körper zitterte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals so geschämt zu haben.

"Henks hm?", fing er an weiter zu sprechen. "Ich nehme mal an, dass es diesen Namen nicht so häufig gibt?"

Ich schüttelte wie in Trance den Kopf. Jetzt wusste er es. Schneller, als ich gedacht hätte.

"Und dein Vater ist Arzt nehme ich an?" Seine Stimme wurde wieder heiser. Das Wort Arzt betonte er auffällig, da uns beiden klar war, dass er keinen gewöhnlichen Arzt meinte. Er wurde immer unbehaglicher.

"Er hat mir nichts über Sie erzählt.", versuchte ich sofort ihn zu beruhigen. Schließlich hatte er das tatsächlich nicht. Trotzdem war er alles andere als begeistert.

Sein Blick richtete sich zu Boden, er lächelte müde, um seine eigentliche Wut zu verbergen.

"Dass das mal jemand erfährt, war nicht geplant.", flüsterte er. Ich bereute so sehr, was ich gesagt hatte. Ich fragte mich, ob überhaupt je jemand von seiner ehemaligen Behandlung gewusst hatte, es schien ihm nämlich äußerst unangenehm zu sein. Wobei eine Schülerin vielleicht auch einfach nicht die Richtige war, die sowas erfahren sollte.

"Was hat er dir erzählt- über mich?" Er sah wieder zu mir auf, wobei er natürlich von oben auf mich herab sah, aber sein Kopf hob sich wieder.

"Gar nichts. Wirklich!" Langsam bekam ich das Gefühl, dass in seiner Vergangenheit wohl einiges gewesen sein musste, wenn er so sehr darauf bestand, dass keiner davon erfuhr.

"Überhaupt nichts?", fragte er skeptisch. Seine Augenbrauen hoben sich in die Höhe.

"Ich weiß Ihren Namen, das ist alles."

Er nickte nachdenklich.

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