58.

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Am nächsten Morgen herrscht eine komische Stimmung. Alle sind ziemlich nervös und ständig verschwindet irgendjemand zum telefonieren.

"Was machen wir heute?", frage ich in die Runde, als wir beim Frühstück sitzen.

"Einen Ausflug", antwortet Abbas. "Wohin?", frage ich neugierig. "Lass dich überraschen, aber zieh dich schick an", antwortet er.

Ich zucke nur mit den Schultern. Ich habe es aufgegeben diese Heimlichtuer zu hinterfragen.

Nach dem Frühstück gehe ich wieder auf unser Zimmer und mache mich fertig. Ich locke meine Haare, schminkte mich und ziehe ein hübsches schulterfreies Kleid in kräftigem königsblau an.

Auf einmal klopft es an unserer Zimmertür. Ich öffne zögerlich und mache Abbas vor der Tür aus, der sich ebenfalls in Schale geschmissen hat. "Was gibt's?", frage ich.

"Lilli, ich wollte dich fragen, ob wir zu Mama fahren wollen? Ich möchte unbedingt zu ihr. Ich habe so einen inneren Drang gerade. Kannst du bitte mitkommen? Ich will nicht alleine gehen."

Zögernd stimme ich zu. Es tut mir immer sehr weh auf den Friedhof zu fahren, auf dem sie beerdigt wurde. Es bricht mir das Herz, dass ich keine Erinnerungen an sie habe und sie nicht besser kennen lernen durfte. Trotzdem will ich Abbas diesen Wunsch nicht abschlagen, da ich weiß, wie viel ihm das bedeutet, schließlich haben wir nicht allzu oft die Möglichkeit ihr Grab zu besuchen.

Abbas und ich halten auf dem Weg zum Friedhof noch bei einem Blumenhandel an und kaufen einen großen Strauß weiße Rosen.

Wir müssen quer über den halben Friedhof laufen, doch auch nach all der Zeit erkenne ich ihr Grab schon von weitem. Ihr Grabstein ist aus weißem Marmor auf dem in goldenen arabischen Schriftzeichen ihr Name, Amina El-Habib, sowie ihr ihr Geburts- und ihr Sterbedatum stehen.

Es macht mich traurig, dass ich den Anblick ihres Grabes besser kenne als den ihres Gesichts.

Abbas stellt die weißen Rosen in eine Vase auf ihr Grab. Wir beten immer für sie wenn wir hier sind, so auch heute, doch nach dem Gebet murmelt Abbas leise, fast schon lautlos etwas vor sich hin. Plötzlich laufen ihm Tränen über das Gesicht, immer mehr, bis er schluchzend in Tränen ausbricht und sich in den Kies vor ihrem Grab fallen lässt.

Ich bin mit der Situation völlig überfordert. Abbas weint meistens, wenn wir hier sind, aber dieses Mal ist er total aufgelöst und sein Gesicht voller Schmerz.

Ich rufe: "Abbas", aber er reagiert nicht. Er schluchzt: "Das ist nicht fair, du solltest hier sein, hier bei uns. Bei Lilli. Du bist doch unsere Mutter." Sanft streichele ich seinen Rücken. Als er meine Hand spürt, schaut er auf und weint noch mehr.

"Abbas.. Hey, Abbas.. Was ist denn los?", frage ich besorgt. "Du siehst genau aus wie Mama, Lilli. Sie wäre so stolz auf dich. Sie hat dich so geliebt, das musst du mir glauben", schluchzt er laut.

Ich streichele über sein Gesicht. Es bricht mein Herz ihn so traurig zu sehen und ich frage mich, was der Auslöser für seinen Zusammenbruch ist.

Wir hocken zusammen auf dem Boden, Abbas weint und ich halte ihn fest, streichele über seinen Kopf und versuche, ihn zu beruhigen.

"Es tut mir leid, echt. Ich wollte nicht, dass du mich so siehst. Ich habe das nicht so geplant", entschuldigt er sich, als er sich ein wenig beruhigt hat.

"Abbas, man kann nicht alles im Leben planen. Und was soll das heißen: "Ich wollte nicht, dass du mich so siehst"? Schämst du dich vor mir?", frage ich ihn.

"Nein, ich schäme mich nicht. Aber ich bin doch dein großer Bruder, der dich beschützen muss, da darf ich eigentlich keine Schwäche zeigen" erklärt er leise.

"So ein Quatsch, was redest du da? Du hast mich mein ganzes Leben lang beschützt, ich konnte mich immer auf dich verlassen und daran ändert sich auch nichts, weil du am Grab deiner Mutter weinst. Das ist keine Schwäche, das zeigt nur dass du ein gutes Herz hast", rede ich auf ihn ein.

Er nickt und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann atmet er tief ein und aus. "Weißt du was, Lilli? Irgendwie war das gerade total befreiend." "Kann ich mir vorstellen", sage ich lächelnd.

"Und jetzt", sagt er, "jetzt machen wir einen Ausflug." "Was denn für einen Ausflug?", frage ich lachend. Er sieht mir tief in die Augen. "Einen wunderschönen. Einen, den du niemals mehr vergessen wirst."

Er steht auf und hält mir seine Hand hin. "Bereit?"

Ich ergreife sie und lasse mich von ihm hochziehen.

"Du wirst mir nicht sagen, wo wir hin fahren, oder?"

"Nein", antwortet er ehrlich. "Was ist mit den anderen? Kommen sie nicht mit?", frage ich verwundert. "Doch, die kommen vom Hotel aus direkt da hin. Vielleicht sind sie sogar schon vor uns da", erklärt er.

Im Auto hole ich mein Handy raus und schreibe Walid eine Nachricht: "Alles okay, Baby? Wie geht's dir?"

Ich warte einen Moment, aber da er nicht antwortet stecke ich mein Handy wieder weg.

Nach gut zwanzig Minuten Fahrt frage ich Abbas: "Fahren wir noch lange?" "Nein, wir sind jetzt gleich da."

Kurz darauf fahren wir über eine enge kurvige Straße einen Berg hoch. Je weiter wir hochfahren, desto mehr sieht man das Meer.

Abbas fährt langsamer und hält nach irgendwas Ausschau, bis er abrupt anhält und den Wagen am Wegrand abstellt.

Es ist schon später Nachmittag und die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Abbas steht vor mir, und ich will aussteigen, aber er versperrt mir quasi den Weg.

"Zwischen uns wird sich niemals was ändern, oder?", fragt er ein wenig traurig.

"Nein, niemals. Egal was passiert", versichere ich ihm. Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann tritt er zur Seite und lässt mich aussteigen.

"Komm, wir müssen hier lang", sagt er und zeigt auf eine kleine Lücke zwischen zwei großen Felsen. Er geht vor und reicht  mir die Hand, damit ich auf meinen Highheels nicht umknicke. Ich quetsche mich durch den Felsspalt und was ich dann sehe, verschlägt mir die Sprache.

In meinem Herzen nur duDonde viven las historias. Descúbrelo ahora