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Samstag, 13. Mai

Seit dem Gespräch mit meiner Halbschwester war nun eine ganze Woche verstrichen und eigentlich war ich davon ausgegangen, dass ich nicht mehr darüber nachdenken würde.

Doch mit jedem einzelnen Tag wurde mein Gehirn immer mehr und mehr von diesem Thema eingenommen.

Ich schlief kaum, da mich diese fremde Frau in meinen Träumen verfolgte. Ständig sah ich ihre Augen, welche mich an meinen Vater erinnerten.

Oft war ich abwesend und bekam die Gespräche um mich herum gar nicht mit. Das führte zu nicht vorhandener Aufmerksamkeit und schlampiger Arbeit, die ich mir an meinem Arbeitsplatz nun wirklich nicht leisten konnte.

Also hatte ich beschlossen meine Halbschwester zu kontaktieren und mit ihr ein Treffen zu vereinbaren, damit wir uns unterhalten konnten.

Ich musste dieses Thema nämlich so schnell wie möglich aus der Welt schaffen, um mich wieder meinem normalen Leben widmen zu können.

Nun saß ich also hier in diesem kleinen Café und blickte ihr in die Augen, die so sehr meinem Vater ähnelten. Selbst ihre Gesichtszüge hatten die gleiche Form. Es war verblüffend, wie ähnlich sie sich doch sahen.

Am liebsten wäre ich jetzt einfach aufgestanden und gegangen, um ihr Gesicht nie wieder sehen zu müssen. Um nie wieder an ihn erinnert werden zu müssen. Doch das kam nicht in Frage.

Das einzige, was mich gerade ermutigte, war Jungkook. Ich hatte ihn darum gebeten mich zu diesem Treffen zu begleiten und er hatte ohne zu zögern zugestimmt.

Ob es an seinen Schuldgefühlen mir gegenüber lag, wusste ich nicht. Mir war einfach nur klar, dass seine Anwesenheit meine Angst und Wut im Zaum hielt.

,,Es freut mich wirklich, dass du dich doch noch umentschieden hast“, lächelte sie.

,,Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich deiner Bitte nachgehen will“, bemerkte ich kalt.

In ihrer Gegenwart hatte ich das Gefühl eine Barriere um mich herum aufbauen zu müssen. Eine Barriere, die mich vor ihren Worten schützte. Dabei war ich diejenige, vor der sie geschützt werden musste.

,,Ich verstehe, dass euer Verhältnis nicht das beste ist und dass du ihn nicht sehen willst. Ich kann das wirklich nachvollziehen. Aber während er auf einen passenden Spender wartet, könnte es zu spät sein. Du bist momentan die einzige, die ihm helfen kann. Die ihn retten kann“, sagte sie ruhig.

,,Und du bist doch Ärztin, richtig? Ist es nicht deine Aufgabe, Menschen zu helfen?“, fügte sie hinzu.

Ich hatte bereits damit gerechnet, dass sie die Du-Bist-Doch-Ärztin-Karte bringen würde und deshalb versucht mir Argumente herauszusuchen, die dagegen sprachen. Nur gab es in diesem Fall keine Gegenargumente meinerseits.

Denn sie hatte Recht. Ich war Ärztin. Ich hatte einen Eid abgelegt und konnte ein auf dem Spiel stehendes Menschenleben nicht einfach ignorieren. Nicht, solange es noch Hoffnung gab.

Und in diesem Fall war ich die Hoffnung.

Ein Teil meiner gesunden Leber konnte den Mann retten, den ich mein ganzes Leben lang verabscheut habe.

,,Ich will...“, setzte ich an und schaute zu Jungkook, welcher genau neben mir saß.

Der Mann legte seine warme Hand auf meine und drückte sie leicht, während er aufmunternd nickte.

,,Ich will zuerst mit ihm reden. Allein“, stellte ich die Bedingung.

,,Natürlich, das ist gar kein Problem! Warum erledigen wir das nicht jetzt sofort?“, schlug sie überglücklich vor.

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Mit weichen Knien und zitternden Händen stand ich vor dem Patientenraum meines Vaters, den ich seit über 20 Jahren nicht gesehen hatte.

Man könnte denken, ich würde mich nicht mehr an ihn erinnern und wenn doch, dann nur an Bruchstücke aus meiner Kindheit. Doch ich erinnerte mich an alles.

Ich erinnerte mich daran, wie er mit mir im Garten spielte und mit mir Sandburgen in dem kleinen Sandkasten baute.

Er hatte mir sogar eigenhändig ein Kinderhaus gebaut und mir eine Schaukel gekauft, weil Schauckeln einer meiner liebsten Aktivitäten war.

Jeden Morgen hatte er mir Frühstück zubereitet und mit mir am Tisch gesessen, bis ich aufgegessen hatte.

Abends hatte er mir Märchen vorgelesen oder seine eigenen Geschichten erfunden, die mich zum Einschlafen gebracht hatten.

Mein Vater war einer der besten Väter, die ein Kind haben konnte. Er war so liebevoll und stets aufmerksam. Jedes einzelne meiner selbstgemalten Bilder hatte er gelobt und in seinem Büro aufgehängt.

Das Büro, in welchem ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

Damals hatte ich mir nichts bei seiner vollen Tasche, welche er in der Hand gehalten hatte, gedacht. Als kleines Kind konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass sich meine Eltern trennen würden und mein Vater mich im Stich lassen würde, mich ohne zu zögern zurücklassen würde.

Erst Jahre später hatte ich durch ein zufälliges Telefonat zwischen meiner Mutter und meiner Tante erfahren, was wirklich vorgefallen war.

Ich hatte erfahren, dass sie ihn mit einem Kollegen betrogen hatte und das mehrmals. Das war der Grund für sein Verschwinden gewesen.

Nur war es keine Entschuldigung. Es rechtfertigte sein plötzliches Verschwinden und sein niemals geschehenes Auftauchen nicht.

,,(Y/N)?“, riss mich eine besorgte Stimme aus meinen verbitterten Gedanken.

Ich schaute zu meiner Rechten und blickte Jungkook direkt in die Augen, die mich so intensiv wie noch nie zuvor anschauten.

,,Mir gehts gut“, log ich.

,,Wenn du willst, kann ich mit reingehen“, schlug er vor, weil er genau wusste, dass ich nicht die Wahrheit sagte.

Ich hatte das Gefühl von ihm wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Natürlich war das ziemlich süß von ihm und ich wusste es zu schätzen. Ich war aber nicht mehr dieses kleine Mädchen, welches Schutz brauchte.

,,Ich schaffe das alleine. Nur...kannst du hier bleiben? Ich weiß, ich verlange viel von dir aber-“.

,,Ich werde hier warten und mich nicht vom Fleck rühren“, unterbrach er mich lächelnd.

Wie aus Reflex legte ich meine Hände und meinen Kopf an seine Brust. Ich konnte seinen Herzschlag hören, der mit jedem Schlag immer schneller schlug. Er war wohl auch ziemlich aufgeregt.

Das Aufgehen der Tür hat unseren ruhigen Moment unterbrochen und meine Halbschwester kam heraus.

,,Du kannst rein. Er wartet“, gab sie mir Bescheid und ließ mich durch.

Ich schaute Jungkook noch ein letztes Mal an, ehe die Tür ins Schloss fiel und ich mich zu meinem Vater umdrehte.

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Versichert ◃▹ Jeon Jungkook x ReaderWhere stories live. Discover now