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Automatisch hielt ich die Luft an, als ich meinen Vater erblickte. Ich dachte, ich wäre auf diesen Moment vorbereitet gewesen. Doch nicht einmal in hundert Jahren wäre das der Fall.

Mit unsicheren und kleinen Schritten ging ich auf sein Bett zu, blieb daneben stehen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, wie ich ein Gespräch anfangen sollte. Glücklicherweise übernahm er diese Aufgabe.

,,Hallo, mein Schatz. Du bist so groß geworden. Eine richtige Frau“.

Seine tiefe und gebrochene Stimme verriet mir, wie erschöpft er war. Seine Augen strahlten nicht, wie sie es damals getan hatten. Seine weißen Haare waren bereits das erste Anzeichen für sein Alter.

Eigentlich war ich total wütend gewesen und hatte mich darauf vorbereitet, ihn anzuschreien. Ihm seine Tat vorzuwerfen und ihn für meine schwere Kindheit verantwortlich zu machen.

Doch als ich ihn so schwach vor mir liegen sah, wurden dieser Zorn und die verbitterten Gedanken wie in Luft aufgelöst.

,,Wie geht es dir?“, fragte ich stattdessen besorgt und setzte mich auf den Stuhl, welcher neben seinem Bett stand.

Als Antwort erhielt ich zuerst ein schmerzhaftes Husten, gefolgt von schweren Atemzügen.

,,Es ging mir schonmal besser“, lachte er mit einem aufgesetzten Lächeln.

Mir war sofort klar, dass er in meiner Gegenwart stark sein wollte, wenigstens so rüberkommen wollte.

Diese Tatsache brach mir mein Herz umso mehr, da er nach all den Jahren immer noch versuchte, vor mir die Wahrheit zu verbergen.

Damals hatte er mir nicht erzählt, was vorgefallen war. Er hatte mich vor seinem Verschwinden nicht gewarnt. Doch nun hatte ich das Gefühl, dass er mich hatte beschützen wollen.

,,Jisoo hat mir deine Lage erklärt. Wenn ich die perfekte Spenderin sein sollte, dann werde ich dir einen Teil meiner Leber spenden. Danach sollte es dir besser gehen“, erklärte ich mich bereit zu helfen.

Ich musste nicht länger darüber nachdenken, ob ich meinem Vater das Leben retten wollte oder nicht. Ich würde es tun, jederzeit.

,,(Y/N), Liebes. Wir sollten über das, was passiert ist, reden“.

,,Dad-“.

,,Es tut mir leid, dass ich dich im Stich gelassen habe. Ich weiß, dass ich deine Hilfe gar nicht verdient habe“, entschuldigte er sich und hustete erneut.

Ich schwieg und gab keinen Ton von mir. Einerseits wollte ich ihn vom Weitersprechen abhalten, da das Thema doch etwas zu unpassend war. Doch andererseits wollte ich unbedingt wissen, was er dazu zu sagen hatte. Ich wollte seine Entschuldigung hören.

,,Als ich gegangen bin, habe ich es sofort bereut. Ich habe versucht dich wieder zu sehen, doch deine Mutter hatte mir jeglichen Kontakt verboten. Sie hat-“.

,,Warte, was? Was meinst du damit?“, unterbrach ich ihn verwirrt.

,,Ich wollte dich mit mir nehmen, weg von ihr. Ich wollte das Sorgerecht für dich aber das hat sie nicht zugelassen und nachdem ihr umgezogen seid, hatte ich gar keine Chance mehr“, erzählte er.

Mit offenem Mund und großen Augen starrte ich ihn an. Ich konnte nicht glauben, dass meine eigene Mutter so etwas tuen würde.

Doch genau so ein Mensch war sie gewesen. Sie war hinterhältig und ehrgeizig. Wenn sie etwas wollte, dann konnte man sicher sein, dass sie es auch bekam.

,,Wenn das wahr ist...warum hast du dann nicht nach mir gesucht?“, wollte ich wissen.

,,Das habe ich...jahrelang. Jeden einzelnen Tag habe ich versucht dich zu finden. Doch irgendwann...“.

,,Irgendwann was?! Hast du einfach aufgegeben?! Einfach so?!“.

Plötzlich war mein ganzer Zorn und meine ganze Wut wieder zurück. Nur waren sie jetzt viel stärker als zuvor. Unkontrollierbar.

,,Du bist einfach gegangen und hast mich bei dieser Frau gelassen! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie beschissen meine Kindheit war?! Ich hatte eine Mutter, die Tag und Nacht gearbeitet hat! Ihr war nur ihr Job wichtig und nicht ihre 5 jährige Tochter, die eine richtige Mutter gebraucht hatte!“, schrie ich ihn an.

,,Liebling-“.

,,Manchmal verbrachte ich tagelang alleine zu Hause, ohne etwas zu essen oder Kontakt zur Außenwelt und das nur, weil sie mich vergessen hatte! Ich musste ständig die Schule wechseln, weil wir jedes Jahr in eine andere Stadt gezogen sind! Ich war nie im Stande gewesen, mich mit jemandem anzufreunden, weil ich wusste, dass ich sowieso nicht lange bleiben würde!“.

Ich unterdrückte krampfhaft meine Tränen und ließ meine Wut, welche seit Jahren angestaut war, an meinem Vater aus.

,,Erst nachdem sie in die Klinik eingewiesen wurde, konnte ich-“.

,,Klinik? Welche Klinik?“, schnitt er mir das Wort ab.

Kurz schwieg ich. Überlegte, ob das ein guter Zeitpunkt wäre, ihm alles zu erzählen.

,,In eine Rehaklinik. Sie hatte Alzheimer“, beruhigte ich mich zum Ende hin.

Ich hatte es geschafft mich unter Kontrolle zu bringen und meinen Wutanfall zu stoppen.

,,Hatte...du redest in der Vergangenheit...“, bemerkte mein Vater mit einer Vorahnung.

,,Sie...sie hatte lange mit der Krankheit zu kämpfen“, flüsterte ich.

,,Sie ist tot“, sagte ich nach einigen Sekunden voller quälender Stille und bereute es sofort.

Mein Vater drückte seine Hand auf seine Brust und fing an schwer und laut zu atmen, so als würde er ersticken.

Die Neuigkeit löste bei ihm so einen starken Schock aus, dass er einen Anfall erlitt.

,,Dad!“, schrie ich panisch und betätigte den roten Knopf über seinem Bett, der die Krankenschwestern über einen Notfall informieren würde.

Bereits wenige Sekunden später stürmten zwei Krankenschwestern und der verantwortliche Arzt herein, um nach ihm zu sehen.

,,Was ist passiert?!“, wollte dieser wissen und drückte mich weg.

,,Ich...ich-“.

,,Was hast du getan?!“, hörte ich die aufgebrachte Stimme meiner Halbschwester schreien.

Ich drehte mich zitternd um und entdeckte Jisoo, die mich verachtungsvoll anschaute. Neben ihr stand Jungkook, der mir mal wieder einen besorgten Blick zuwarf.

Nicht fähig etwas von mir zu geben oder mich zu bewegen, starrte ich zwischen ihnen hin und her.

Die nächsten Minuten liefen für mich in Zeitlupe ab. Das Geschehen um mich herum fühlte sich wie ein schlechter Film mit mir als Hauptrolle an.

Ich bekam mit, wie ich von Jungkook aus dem Raum geführt wurde, um dann in einen anderen gebracht zu werden.

Er rief immer wieder meinen Namen und wiederholte ständig den selben Satz.

,,Bist du dazu bereit, einen Teil deiner Leber zu spenden?“.

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Versichert ◃▹ Jeon Jungkook x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt