2. Kapitel

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Grayson

Ein lauter Knall ließ mich aufschrecken.

"Mr Grayson?", rief eine Stimme vor meinem Zimmer. Ich sah von meinem Handy auf und blickte zur Tür.

"Ja?"

"Ich bin's, Scott. Würden Sie bitte kurz die Tür öffnen?"

Meine beste Freundin Mia, die auf einem der Sofas gegenüber von mir lag, verdrehte die Augen in meine Richtung, wie um zu sagen "nicht schon wieder". Ich hob nur stumm die Augenbrauen und rollte vom Bett, um die Tür zu öffnen.

Scott, der Manager von Willims Sportwear, der Firma meiner Eltern, stand davor und sah mich böse an. Andererseits tat er das immer - Mia vermutete immer, dass er einen genetischen Gesichtsfehler haben könnte. Er war klein, dürr und trug wie immer ein T-Shirt, auf dem über der Brust in Großbuchstaben "Willims" stand, mit dem Logo der Firma daneben. Er war schon immer ziemlich stolz auf seinen Job gewesen.

"Ja?"

"Guten Abend, Mr. Grayson. Ich wollte Sie nur noch einmal erinnern, dass es bald auf sechs Uhr zugeht", sagte Scott und sah mich böse an.

"Aha?"

"Der Boxverein schließt immer um sechs", fuhr er fort, "und über das Wochenende haben sie für gewöhnlich geschlossen. Ich würde vorschlagen, Sie beeilen sich, wenn Sie die Ladung Trikots noch vor Montag ausliefern wollen. Es wäre doch recht... schade, wenn ich Ihren Eltern davon berichten müsste, wenn sie am Montag wiederkommen."

Shit, der Boxverein. Das hatte ich ganz vergessen.

"Ich nehme an, Sie haben das vergessen?"

"Natürlich nicht", log ich. "Ich gehe sofort los."

Scott machte eine Art steife Verbeugung und ging den Gang hinunter. Ich drehte mich zu Mia um.

"Ich muss los."

Sie baumelte mit den Beinen und schmollte."Behandelt man so seine Lieblingsfreundin, die man erst nächsten Mittwoch wiedersieht?"

"Ganz genau", sagte ich und nahm meinen Schlüssel. "Bis nächsten Mittwoch, du Lieblingsfreundin."

Sie warf mir eine Kusshand zu. "Bis dann."

☆☆☆

Als ich mit den Trikots in einer Kiste unter dem Arm den Verein erreichte, war es schon zwanzig nach sechs und ich hatte schon halb die Hoffnung aufgegeben, dass noch jemand da war, aber die Eingangstür war wider Erwarten nicht abgeschlossen. Ich trat ein und sah mich um. Ein Flur mit drei Türen lag erleuchtet, aber verlassen vor mir, kein Zeichen, dass Menschen hier trainierten oder überhaupt noch jemand anwesend war.

"Hallo?", rief ich. Keine Antwort kam.

Ich zuckte zusammen, als ein lautes Geräusch die Stille unterbrach. Erst nach einem Moment realisierte ich, dass es mein Handyklingelton war, und ich beeilte mich, mein Handy aus der Tasche zu holen.

"Whatsapp Video Call" stand da über einem Bild von meinen Eltern. Ich zögerte für einen Moment - es war ein unpassender Zeitpunkt -, nahm aber dann den Anruf an, während ich den Flur hinunter ging zur ersten Tür.

"Hi, Mom und Dad", sagte ich und öffnete die erste Tür. Der Raum war dunkel, aber ich konnte einige Trainingsgeräte und Boxsäcke erkennen. Allerdings keine Menschen, deshalb schloss ich die Tür wieder und ging weiter zur nächsten Tür.

"Guten Abend, Grayson", sagte Dad. Er trug ein hellblaues T-Shirt mit dem Willims-Logo auf der Brust und seine ergrauenden Haare waren sorgsam aufgegelt wie für jedes Meeting. Sein kantiges Gesicht war gebräunt und fast faltenfrei und als er lächelte, blitzten seine weißen Zähne auf.

Hinter der zweiten Tür war ein genauso dunkler und genauso verlassener Trainingsraum. Ich ging weiter zur letzten Tür.

Hinter der Schulter meines Vaters war das Gesicht meiner Mutter aufgetaucht. Ihre glatten blonden Haare waren in einen sportlichen Pferdeschwanz gebunden und sie trug auch ein Willims-T-Shirt, aber ihres war orange. Ihr Make-up ließ sie nicht älter als 30 aussehen. Sie schenkte mir ihr perfektes Lächeln.

"Grayson, Liebling! Wie geht's dir?"

"Gut, Mom. Wie läuft es bei euch?"

"Herausragend", sagte Dad. "Soweit können wir uns darauf einstellen, dass die Firma bald außerhalb von Amerika Fuß fasst - eine ausgezeichnete Gelegenheit, nicht wahr, Schatz?"

Er legte einen Arm um ihre Schultern und begann, ausgiebig von der Wichtigkeit des anstehenden Meetings zu reden. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu.

Manchmal sah ich meine Eltern an und versuchte, sie so zu sehen wie alle anderen. Ich sah die Gesichter, die glatt und faltenfrei geblieben waren wegen zahlreicher Operationen. Ich sah die zahnpastaweißen Zähne und die perfekt gestylten Frisuren, die Muskeln, die sie in zahlreichen Stunden im Fitnessstudio sorgsam antrainiert hatten und die Salate, die sie aßen, wenn wir essen gingen. Ich sah, dass sie immer die Klamotten ihrer eigenen Marke trugen, wie um damit anzugeben.

Ich sah, dass ihnen ihre Firma weit wichtiger war als ihr einziger Sohn.

Der Gedanke tat weh. Und war nicht wahr, sagte ich mir selbst. Hatten meine Eltern nicht alles für mich getan, mir die beste Highschool gefunden, die besten Verbindungen zu Colleges, die besten und exclusivsten Clubs? Hatten sie mir nicht alles gekauft, was ich mir nur wünschen konnte? Und natürlich waren sie immer beschäftigt. Sie leiteten Willims Sportswear. Die Firma war eben ein Vollzeitjob.

"Ich muss Schluss machen, sorry", sagte ich, während ich, die Kiste mit den Trikots unter den Arm geklemmt, den Flur hinunter ging.

Mein Vater, der gerade mitten im Erzählen gewesen war, hielt inne.

"Ähm... mein Akku ist fast leer", sagte ich. Keine Lüge: ich hatte tatsächlich nur noch 5%. "Vielleicht kann ich später irgendwann zurückrufen. Viel Glück bei eurem Meeting."

"Danke, Grayson-Schatz", flötete Mom. "Wir werden unser Bestes geben. Du weißt doch -"

"Willims Sportswear - nur das Beste für die Besten. Ich weiß, Mom."

Die letzte Tür führte zu einem Büro und einer Treppe nach unten. Das Büro war leer, also ging ich die Treppe hinunter. Ich erinnerte mich dunkel, dass die Trikots in den Keller gebracht werden sollten.

"Dann sprechen wir uns bald", sagte Dad. "Vielleicht nach dem Meeting, wenn wir Willims Sportswear auch über die Grenzen der USA gebracht haben." Er lachte.

Auf der Treppe gab es keine Beleuchtung. Nur das Licht von oben drang bis hinunter. Als ich den Fuß der Treppe erreichte, konnte ich die massive Metalltür vor mir gerade noch erkennen. In den Kellerräumen dahinter war auch kein Licht an. Vielleicht waren die Boxer ja schon alle gegangen und hatten bloß vergessen, oben abzusperren?

"Nicht so voreilig, Edward. Niemand hat etwas davon gesagt, dass wir den Deal überhaupt bekommen."

Im Dunkeln stolperte ich über etwas im Boden. Ich fing mich gerade noch - ohne die Kiste fallenzulassen - und schaltete die Taschenlampe von meinem Handy an. Nur noch 2%.

In dem Moment rammte mich etwas mit voller Wucht in die Schulter. Ich unterdrückte einen Schmerzenslaut und sprang zurück. Nur knapp konnte ich die Kiste mit den Trikots noch festhalten. Ein langgezogenes Quitschen erklang und dann erkannte ich im dünnen Pegel meiner Handytaschenlampe, über was ich gestolpert war: über den Türstopper, der die schwere Tür aufgehalten hatte. Der Türstopper war weggerutscht und lag einige Meter weiter weg.

"Wir wissen doch alle, dass wir das Ding total rocken werden. Stimmt's nicht, Grayson?"

Mit einem lauten Knall fiel die Metalltür ins Schloss und sperrte das letzte bisschen Licht aus, das von oben gekommen war.

Im selben Moment gingen mein Handydisplay und die Taschenlampe gleichzeitig aus. Die Gesichter meiner Eltern wurden von Dunkelheit verschluckt.

"Mom?", sagte ich. "Dad?"

Ich versuchte, das Handy anzuschalten, aber es reagierte nicht.

"Mom!"

"Hallo?", rief eine Mädchenstimme.

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