22. Kapitel

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Amber

Willy, dieser Name gefiel mir. Und um ehrlich zu sein, der Name Am gefiel mir auch, besonders, wenn Grayson ihn aussprach. Wenn er den Namen sagte, klang er so weich und unbeschwert, denn für mich war Am war der Name von einem ganz normalen Mädchen, das auf die Highschool ging, Freunde hatte, beliebt war und vielleicht einen hübschen Footballer als Freund hatte. Ich wünschte, ich wäre dieses Mädchen. Nicht Amber, die Teenagerin mit der Alkoholikerin als Mutter, mit nur ein paar Fake-Freunden und einem Exfreund, der über WhatsApp mit ihr Schluss gemacht hat.

Wow, war ich in Selbstmitleid verfallen. Hör auf damit, Amber. Dir geht es nicht schlecht, hör auf, so über dein hartes Leben zu jammern, dachte ich mir. Es gab so viele Menschen auf der Welt, denen es schlechter geht. Bleib stark. Verlier deine Maske nicht.

Wenn ich genau darüber nachdachte, hatte ich gegenüber Grayson - Willy - schon längst meine Maske abgelegt und diesem Jungen schon so viel mehr über mich erzählt, als ich mir je zugetraut hätte. Nach all den Stunden, die wir hier schon im Keller verbracht hatten, hatte ich das Gefühl, dass ich dem Jungen vertrauen konnte und meine Geheimnisse gut und sicher bei ihm bewahrt waren. Grayson gab mir das Gefühl, etwas wert zu sein, dass meine Gefühle eine Bedeutung hatten und ich sie nicht verbergen durfte. Trotzdem, ein paar Dinge hatte ich ihm bis jetzt verschwiegen, und ich würde sie ihm auch nie in meinem Leben erzählen können. Wenn er davon erfahren würde, könnte das verheerende Folgen haben; womöglich würde es die ganze Vertrauensbasis und Beziehung, die wir in dieser kurzen Zeit aufgebaut hatten, einfach zunichtemachen. Er durfte es nie erfahren.

Ich riss mich zusammen, lenkte mich vom Thema ab und ging wieder auf Grayson ein: "Also, Willy, können wir jetzt weiterboxen?" Ein breites Grinsen erleuchtete sein Gesicht. Entschlossen nahm er wieder Kampfhaltung ein, um mir zu zeigen, dass er wieder bereit war. Und wir übten weiter.

Nach einigen Minuten Training waren wir beide erschöpft und von Schweiß bedeckt. Im Schein der Lampe glänzte die Haut von Grayson durch die vielen kleinen Schweißtropfen, die ihn noch attraktiver aussehen ließen. Der Junge ließ sich geschafft auf den Boden sacken. "Ich kann nicht mehr!", sagte er keuchend. "Ich glaube, für heute habe ich erstmal genug von Boxen gelernt." "Das glaube ich auch", bestätigte ich und ließ mich neben ihn plumpsen. Auch ich musste zugeben, dass ich ziemlich entkräftet und mein Körper ausgelaugt war. "Ich hol mir ein Wasser, soll ich dir eins mitbringen?", fragte ich und stand wieder auf. Noch immer außer Atem, nickte er mir zu.

Langsam ging ich in die Küche und holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank. Als ich zurück in den Geräteraum kam, streckte mir Grayson bereits die Hand entgegen, um sein Getränk entgegenzunehmen. Sofort nachdem ich es ihm überreicht hatte, fing er an, zu trinken, und konnte nicht mehr aufhören. Einen Schluck nach dem anderen stürzte er in sich hinein, bis er schließlich innerhalb weniger Sekunden die ganze Flasche ausgetrunken hatte. Ich saß währenddessen verdutzt daneben und betrachtete ihn bei seinem ... Wow, ich hatte ihn echt fertig gemacht. Irgendwie war es süß, wie erschöpft er wirkte. Die Anstrengung erschlug ihn beinahe, oder so sah es zumindest für mich aus. Mit einem lauten "Ah" stellte Grayson die Falsche wieder ab. "Du trainierst nicht oft, oder?", fragte ich ihn.

"Naja, früher hab ich ziemlich viel Sport gemacht. Als ich noch jünger war, hab ich oft Golf gespielt, aber eigentlich nur, weil meine Eltern mich dazu genötigt hatten. Mir hat das eigentlich gar keinen Spaß gemacht, aber es hat ewig gedauert, bis ich meine Eltern überzeugen konnte, dass ich aufhören durfte. Dann war ich oft im Gym, aber irgendwie geh ich da nicht mehr hin, seit...Naja, du weißt schon, was ich meine." Der Skandal, schon klar. "Wieso?", fragte ich nach. "Wieso was?" "Naja, wieso trainierst du nicht mehr? Was hält dich davon ab?" Er zuckte mit den Achseln. "Ich weiß nicht recht. Ich schätze, es macht einfach keinen Spaß mehr, so ganz ohne Freunde." "Schlechte Ausrede", entgegnete ich, "ein bisschen mehr Ausdauer-und Krafttraining würden dir sicher guttun", und schlug ihm nicht feste auf seinen Oberarm. "Hey!", rief er, fasste sich energisch an seinen Arm und rieb ihn, und setzte ein schmollendes Gesicht auf, als wäre er beleidigt. Dies gelang ihm aber nicht besonders überzeugend, stattdessen musste er schallend in mein Lachen einstimmen. "Ich überleg's mir mal. Ehrlich. Du hast recht, vielleicht würde es mir guttun." "Oho, Willy, wo kommt denn auf einmal diese Überzeugung her?", fragte ich und zeigte mich beeindruckt. "Daher", entgegnete er und deutete mit seinem Finger auf sein rotes, mit Schweißtropfen bedecktes Gesicht. Ich musste laut losprusten. Grayson konnte so lustig sein, wenn er sich über sich selber lustig machte. Mittlerweile mochte ich ihn echt gern. Grayson gab mir das Gefühl, nicht nur irgendwer zu sein, sondern ein jemand, der andere Leute beeinflussen konnte und dessen Gefühle wichtig waren. Ich mochte seine Art, wie er im einen Moment total unselbstbewusst und danach wieder total selbstsicher wirken konnte, sein Lächeln, und besonders seine Umarmungen. Bis jetzt hatte ich zwar nur eine erhalten, aber ich wusste nicht, wann mich das letzte mal jemand mit so einer Offenheit und liebevollen Art umarmt hatte. Hoffentlich würde Grayson mich nochmal während dem Wochenende mit seinem großen Oberkörper umschlungen, und am besten nie wieder loslassen.
Aber es konnte nie etwas aus uns beiden werden. Eine Beziehung zwischen einem dunkelhäutigen Mädchen, das ständig arbeiten musste, um ihre Familie zu versorgen, und ein Junge aus einem reichen Elternhaus, dessen größtes Problem war, das passendste Outfit für das wöchentliche Meeting der größten Klamottenkonzerne auszuwählen, das konnte nicht funktionieren. Und er hatte sowieso keine Interesse, das hatte er in den letzten paar Stunden immer wieder deutlich gemacht, indem er immer wieder von mir weg gewichen war und körperliche Distanz zu mir aufgebaut hatte. Nein, wir waren nur zwei Jugendliche, die aus Versehen zusammen in einem Keller eingesperrt waren und irgendwie ihre Zeit rumtreiben mussten. Mehr war da nicht.

"Am, alles gut bei dir?", hörte ich es auf einmal. "Was? Ähh, klar...", stotterte ich, als ich wieder in die Realität zurückkehrte und bemerkte, dass Grayson mir überraschend gekommen nah war und mich mit einem besorgten Blick musterte. Grayson wirkte nicht sonderlich überzeugt von meiner Aussage und hakte nochmal nach: "Bist du sicher? Du hast grad überhaupt nicht auf meine Frage reagiert, noch mich eines Blickes gewürdigt." Wenn man genau hinhörte, konnte man einen leicht beleidigten Ton in seiner Stimme erkennen. "Wirklich, alles gut. Tut mir leid, wenn ich abwesend gewirkt habe. Jetzt bin ich wieder voll und ganz für deine Unterhaltung da!", versicherte ich ihm. Um meine Aussage zu bestätigen, fragte ich ihn: "Also, was wollen wir jetzt machen?" "Auf jeden Fall nicht mehr Boxen!", kamen die Wörter von Grayson wie aus der Pistole geschossen. "Was würde ich jetzt alles dafür tun, um unter eine warme Dusche zu hüpfen und mich wieder richtig waschen zu können...", träumte er laut vor sich hin.
"Was vermisst du eigentlich am meisten an deinem Zuhause?", fragte ich ihn. Er blickte zu mir und sah mich mit einem nachdenklichen Blick an. Außerdem zog er seinen rechten Mundwinkel auf die linke Seite, so wie er es immer tat, wenn er nachdachte.

Irgendwie war dieser Tick von Grayson schon eine Gewohnheit für mich geworden, und ich fand ihn echt niedlich und musste schlagartig schmunzeln. Scheinbar hatte der Junge vor mir mein Grinsen bemerkt und fragte mich: "Was ist los?" "Ach, nichts", sprach ich leise, konnte mich aber selbst nicht ernst nehmen und blickte nach unten, um mein Grinsen ein bisschen zu verstecken. "Was?", fragte er erneut. "Naja, also...mir ist nur aufgefallen, wie du immer, wenn du nachdenkst, deinen Mundwinkel auf die andere Seite ziehst", kicherte ich. "Tue ich gar nicht!", erwiderte Grayson, doch die rote Farbe, die ihm unmittelbar nachdem ich seinen Tick ausgesprochen habe ins Gesicht schoss, verriet ihn. Kichernd nickte ich mit dem Kopf und murmelte ein leises "Oh doch..." vor mich hin. "Okay, du hast recht. Darauf haben mich meine Eltern auch schon angesprochen, die wollen, dass ich mir das abgewöhne." - "Ich find's süß", platzte es auch mir heraus, bevor ich realisierte, was ich gerade gesagt hatte. Oh mein Gott. Ich hatte hiermit  innerhalb von einem Satz all meine Prinzipien verloren, ich hatte offen meine Gefühle dargelegt und gleichzeitig Grayson, den ich vor einem Tag noch abgrundtief gehasst hatte, ein Kompliment gemacht. Sicherlich würde Grayson mich jetzt überhaupt nicht mehr ernst nehmen und mich für total Fake erklären. Ich wünschte, ich könnte meine Aussage zurücknehmen, aber es war zu spät. Gesagt war gesagt.
"Ähm, d-danke...", stotterte Grayson vor sich hin. Auch er wirkte sehr überrascht, mehr sogar verunsichert, über meine plötzliche Kundgebung. "Ich bin mir sicher, ich finde am dir auch noch ein lustiges Makel, Am."

Damit war das Thema für ihn beendet, aber mir ging meine Aussage nicht aus dem Kopf. Was hatte dieser Junge, dass mich auf einmal so anders sein ließ? Ich musste ehrlich zugeben, ich mochte die Amber, die ihre Gefühle loswerden und ihre Verletzlichkeit zeigen konnte, aber sie machte mir auch Angst, weil Verletzlichkeit auch immer ein Zeichen der Schwäche war, und ich wollte nicht schwach sein. Dennoch hatte ich das Gefühl, ich hatte an diesem Wochenende eine komplett neue Seite von mir kennengelernt, die ich bis jetzt noch nie gesehen hatte. Aber diese Seite gefiel mir auch, und insgeheim hoffte ich, ich würde einen kleinen Teil von ihr behalten, auch wenn dieses ganze Keller-Szenario vorbei war.
Aber davor musste ich dafür sorgen, dass ich nie wieder einen Teil von der früheren Amber preisgab.

STUCKWhere stories live. Discover now