19. Kapitel

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Amber

Gerade war Grayson in den Geräteraum verschwunden und ich saß alleine in der Küche. Was war das denn gerade gewesen? Irgendwie war der Teller einfach meiner Hand entrutscht, und das hatte fatale Folgen gehabt. Eine Scherbe hatte meinen Auge verletzt, die andere meinen Arm und dann hatten schließlich noch einige meine Schuhe beschädigt.

Ich blickte an meinem Körper herab und begutachtete ihn genau. Zum Glück hatten keine Splitter meine Hose erwischt, aber dafür waren meine Sportschuhe ziemlich zerstört. Mist, die Schuhe waren zwar nicht mehr die neuesten, aber auch noch nicht so alt, dennoch blieb mir nichts anderes übrig, als sie nach diesem Wochenende wegzuwerfen und mir neue zu kaufen. Dies bedeutete für mich, dass ich noch eine Schicht mehr im lokalen Supermarkt übernehmen musste, als ich es eh schon tat, um die Schuhe zu finanzieren. Die meisten Nachmittage verbrachte ich damit, in dem kleinen Supermarkt unseres Ortes zu arbeiten, um ein wenig Geld für meinen kleinen Bruder Noah und mich dazuzuverdienen, zu arbeiten oder auf Noah aufzupassen. Obwohl Mom nachmittags auch eigentlich nur selten arbeitete, brachte sie es nicht mal fertig, ihm mal nach der Schule etwas Gutes, Gekochtes zu Essen hinzustellen, geschweige denn ihn zu beschäftigen oder was mit ihm zu unternehmen. Der Junge war gerade mal acht Jahre alt, er brauchte doch wen, der für ihn da ist und sich um ihn sorgt, so wie es alle Jungen im Grundschulalter haben sollten. Wenn er zum Beispiel mit irgendwelchen Freunden spielte, war ich die, die dafür sorgte, dass er bei Anbruch der Dunkelheit wieder zuhause war. Und wenn er seine Mathehausaufgaben wieder nicht verstand, musste ich sie ihm erklären, obwohl ich selber nicht die beste in der Schule war. Ich vermisste Noah.

Umso mehr traf mich dann die Realität wie ein harter Schlag in die Magengrube. Denn statt bei meinem kleinen Bruder zu sein, musste ich feststellen, dass ich ihn vermutlich das ganze Wochenende nicht sehen und stattdessen in dem Keller meines Boxvereins eingesperrt sein würde. Hoffentlich ging es Noah gut. Noch dazu kam diese blöde Missgeschick mit dem Teller. Zum Glück war nur Grayson dabei gewesen, und der konnte den Umständen entsprechend einigermaßen reagieren. Obwohl ich es ihm gegenüber nicht zugeben wollte, tat der Schnitt am Arm ziemlich weh. Die Stelle fühlte sich an, als hätte jemand seine Zigarette an meinem Arm ausdrücken wollen und war dabei über meinen ganzen Arm gewandert. Verdammt, die Wunde schmerzte.

Obwohl ich Grayson gesagt hatte, dass das nicht nötig sei, ging ich zum Wasserhahn und ließ kaltes Wasser über meinen Arm laufen. Schaden würde es allemal nicht und wahrscheinlich würde es helfen. Das frische Wasser rann mir über den Arm und kühlte dabei meine Wunde. Zwar tat es dadurch ein bisschen mehr weh, aber auf der anderen Seite fühlte es sich unglaublich gut an, und so stieß ich einen lauten Seufzer aus und schaute erleichtert nach oben.

Ich verharrte einige Minuten so, bis ich den Wasserhahn wieder zudrehte und mir mit einigen Papiertüchern den Arm abtrocknete. "Amber?", hörte ich Grayson aus dem Nebenraum. "Ja?" "Störe ich?", fragte er mich. Nachdem ich mit einem kurzen "Ne, alles gut", geantwortet hatte, trat er schließlich durch die Tür und leistete mir in der Küche Gesellschaft. "Also, ich hab mir gedacht, das Essen ist ja zum Glück nicht zu Schaden gekommen und wir könnten jetzt frühstücken", ließ ich ihn wissen. Sein Grinsen machte deutlich, dass er nichts gegen meinen Vorschlag einzuwenden hatte. Kurz darauf bewegte er sich auch schon in Richtung der Teller. Ich traute mich nicht mehr, eine neue Platte aus dem Regal zu holen, nachdem mein erster Versuch schon gescheitert ist, deshalb sollten wir doch von einem Teller essen. "Das ist unser Pensum für  heute Morgen. Jeder kriegt einen Minimuffin, zwei Oreos und drei Cracker, dazu teilen wir die Chips und Salzbrezeln möglichst gerecht. Ich weiß, es ist nicht viel, aber mehr können wir uns nicht erlauben, wenn wir das ganze Wochenende hier verbringen", erklärte ich ihm und griff nach einem Muffin. Genau in diesem Moment aber wollte Grayson auch danach greifen und unsere Hände streiften sich. Sofort zog der Junge seine Hand zurück. Ich merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und er ganz rot wurde. "Nach dir", sagte er knapp. Daraufhin musste ich schmunzeln und nahm mir den Muffin.

Er schmeckte fantastisch. Zwar war das Essen ziemlich trocken und bröselig, aber ich hätte mir in dem Moment nicht mehr wünschen können als diesen Muffin. Trotzdem wollte ich nicht wissen, wie lange diese Muffins hier schon gelagert waren. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, nach dem Freitagabend, bei dem wir auch kaum etwas gegessen haben, endlich etwas richtiges zu schmecken. Auch Grayson wirkte sehr zufrieden, denn das Grinsen in seinem Gesicht hätte durch eine auch noch so schlechte Nachricht nicht verschwinden können. Er biss mit einem kräftigen Happen in das Gebäck rein, dabei blieb ein kleiner Schokodrop an seinem rechten Mundwinkel hängen. "Mach mal so", befahl ich ihm und demonstrierte an mir selber, wie er sich den Fleck mit dem Finger wegmachen sollte. "So?", fragte er und wischte an der falschen Stelle. "Ne, andere Seite", entgegnete ich. Grayson versuchte es  und scheiterte erneut. Deshalb befeuchtete ich kurzerhand meinen Zeigefinger mit Spucke und rubbelte damit an seiner Backe herum, bis der Schokofleck verschwunden war. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete zufrieden mein Werk. "Besser."

Wir saßen noch einige weitere Minuten in der kleinen Küche und aßen unseren Restvorrat für das Samstagmorgen. Zwar war die Nahrung nicht besonders sättigend und nährstoffreich gewesen, und unser Hunger würde schon bald wieder andauern, aber für den Moment reichte es. Wir waren bereit, den neuen Tag zu beginnen.

"Was wollen wir eigentlich jetzt machen?", fragte mich Grayson. "Ich könnte dir etwas Boxunterricht geben!", schlug ich vor. "Ich weiß nicht so recht...", sagte der Junge und blickte in die Ecke. "Ach komm schon, versuch es doch wenigstens mal."- "Na gut, aber nur, wenn ich dir dafür was über Harry Potter erzählen darf. Das haben wir gestern ausgemacht, wenn wir wirklich die ganze Zeit über hier feststecken und nicht wissen, was wir tun sollen. Erinnerst du dich?"  "Deal", sagte ich und hielt Grayson meine Hand so hin, dass er einschlagen konnte. Er klatschte ein. Hätte man uns nicht persönlich gekannt, hätte es fast so aussehen können, als wären wir Freunde.

"Jetzt hab ich aber noch eine Frage an dich", setzte ich an. "Glaubst du, dein Buttler Scott lässt sich noch blicken?", fragte ich. Grayson blickte mir tief in die Augen. "Ich denke nicht. Er wird nicht kommen."

Damit war die Sache endgültig.

STUCKWhere stories live. Discover now